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Trampelpfad durch die Vorgärten


Stadtteil: Treptow, Neukölln
Bereich: Kungerkiez
Stadtplanaufruf: Berlin, Kiefholzstraße
Datum: 23. Mai 2016
Bericht Nr.: 546

Selten trifft man in einem kleinen Kiez auf soviel Stadtgeschichte pur wie im Kungerkiez. Ursprünglich erstreckte sich hier die Cöllnische Heide - ein Wald- und Wiesengebiet - vom Fischerdorf Cölln bis nach Adlershof. Nachdem der Stadtforst abgeholzt war, entstand hier ein Gärtnereiviertel. Das preußische Militär baute eine Kaserne für ihr erstes Telegraphen-Bataillon. Heute sitzen in dem als Hochsicherheitstrakt aufgerüsteten Bau die Personenschützer des Bundeskriminalamts und das Terrorismusabwehrzentrum. Im Viertel wurden um das Jahr 1900 Mietskasernen und gutbürgerliche Häuser errichtet, große Industriebetriebe siedelten sich an. Nach der Wende begann erst spät ein Bauboom. Mehrere Verkehrswege durchschneiden oder berühren den Kungerkiez: der Landwehrkanal, der Neuköllner Schiffahrtskanal, die (stillgelegte) Bahntrasse der Görlitzer Bahn, die S-Bahn, die im Bau befindliche Stadtautobahn A 100. Auch der bezirksübergreifende "Teltower Dörferweg" - einer von 20 Wanderwegen durch Berlins Stadtgebiet - führt hier hindurch.

Treptow und Neukölln sind im Kiez miteinander verwoben, und so kam es zu einem Zickzack-Verlauf der Berliner Mauer während der Teilung der Stadt. In einem Abschnitt der Bouchéstraße gehörten die Wohnhäuser auf eine Seite zu Ost-Berlin, auf der gegenüberliegenden zu West-Berlin. Allerdings trafen sich die Bezirke nicht auf der Mitte der Straße, sondern vor der Grundstücksgrenze der Neuköllner Häuser. Das hätte die Hausfront sein können, wegen der zu den Grundstücken gehörenden schmalen Vorgärten verlief die Grenze aber zwischen Bürgersteig und Vorgarten. Der Bürgersteig vor den West-Häusern war Ost-Berliner Territorium, nur der Vorgarten gehörte zum Westen. Auch wenn die DDR großzügig die Mauer auf dem Fahrdamm aufstellte, waren die West-Berliner auf ihrem Bürgersteig gefährdet, und so richtete Neukölln einen Trampelpfad durch die Vorgärten ein. Durch eine Linie doppelter Pflastersteine im Asphalt kann man den Mauerverlauf nachverfolgen. An einer Stelle stehen sich heute in der Bouchéstraße unschuldig ein Peitschenmast der DDR-Grenzsicherung auf der "Ost"-Seite der Bouchéstraße und eine Schinkellaterne auf der "West"-Seite als Straßenbeleuchtung gegenüber.

Zur "Republikflucht" - so der DDR-Ausdruck für das Verlassen des Landes - wurden im Kungerkiez von West-Berlin aus mehrere Fluchttunnel gegraben, die meisten in der Heidelberger Straße, weil sie nicht sehr breit ist. Durch einen dieser Tunnel sollen mehr als 50 Ost-Berliner nach West-Berliner gekrochen sein. Andere Tunnel waren nicht so erfolgreich, manche wurden entdeckt oder verraten. Einen Fluchthelfer hatte die Stasi-Einsatzgruppe erschossen. Die DDR behauptete gern, durch so einen Tunnel sollten feindliche Agenten ins Land gebracht werden, er sei eine "Agentenschleuse".

Nachdem bis 1840 der Berliner Stadtforst (Cöllnische Heide) abgeholzt war, siedelten sich Gartenbaubetriebe hier an. In riesigen Gewächshäusern wurden hochwertige und exotische Blumen, Pflanzen und Früchte für die Residenzstadt Berlin kultiviert. Nach Johann Peter Paul Bouché, einem Kunstgärtner hugenottischer Abstammung, ist eine Straße im Gärtnereiviertel benannt. Dort, wo Hyazinthen und Tulpen, Ananas und Aprikosen heranwuchsen, traf sich die vornehme Berliner Welt. Doch dann sank durch den Kanalbau der Grundwasserspiegel um zwei Meter ab. Der Boden trocknete aus, das war das Ende der Gärtnereien. Aber ihre Grundstücke waren heiß begehrt, als Folge der Industrialisierung wurden Flächen für die Wohnbebauung gesucht.

Auch mehrere große Betriebe siedelten sich im Kungerkiez an und errichteten hier ihre Industriekomplexe. In Sichtweite des Kanals produzierte Agfa an der Jordanstraße in einem von Paul Karchow errichteten Fabrikbau. Agfa war in Rummelsburg gegründet worden und erweiterte mit dem Kauf der Chemischen Fabrik Dr.Jordan seine Angebotspalette, die vor allem fotografische Produkte umfasste. Im Ersten Weltkrieg hatte Agfa aber auch Giftgas und Filter für Atemschutzmasken produziert. In den 1930er Jahren verlegte Agfa seine Produktion nach Wolfen. Eine Waffenfabrik zog in den Industriekomplex ein.

Eine Ecke weiter an der Kiefholzstraße steht die Metallwarenfabrik Fritz Weber & Co, genannt "Laternen-Weber". Fritz Weber war im Dritten Reich "Wehrwirtschaftsführer", also ein besonders ausgezeichneter Leiter eines rüstungswichtigen Betriebes. Er beschäftigte in der Rüstungsproduktion mehr als 2.300 Mitarbeiter, darunter Zwangsarbeiter aus zwei Lagern für Ostarbeiter und für Ausländer an der Lohmühlenstraße.

Der Architekt Otto Rudolf Salvisberg errichtete 1928 für die Filmkopieranstalt Geyer-Werke AG an der Harzer Straße ein langgestrecktes Fabrikgebäude aus dunklen Klinkern. Von der Gebäudegliederung her gehört es zur Neuen Sachlichkeit, die unterschiedlich nuancierten Klinker sind im gotisch geprägten Märkischen Mauerverbund angeordnet. Eigenwillig ist die schnörkellose Schrifttype des Firmennamens, der auch als Schriftband im Mauerwerk wiederkehrt.


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Das 1911 als "Kino-Kopier-Gesellschaft" gegründete Unternehmen kopierte natürlich keine Kinos, sondern die auf Zelluloid gebannten Erzeugnisse der Traumfabriken. Zu den Aufgaben gehört nicht nur das Kopieren, sondern auch die Nachbearbeitung von Filmen ("Postproduktion"). Leni Riefenstahls Film über den Reichsparteitag 1934 ("Triumph des Willens") wurde in den Geyer-Werken bearbeitet. Hitler ließ sich den Film von ihr in der Harzer Straße vorführen, wo für sie eine Geschäftsstelle im Kopierwerk eingerichtet worden war. Auch viele bekannte Nachkriegsfilme wurden in den Geyer-Werken nachbearbeitet, beispielsweise "Der dritte Mann", "Große Freiheit Nr. 7", "Das Leben der Anderen", "Lola rennt" und Filme von Rainer Werner Fassbinder und Wim Wenders.

Parallel zur Kiefholzstraße fährt die Görlitzer Bahn durch das Kungerviertel. Der Eisenbahnbau war aus militärischen Gründen vorangetrieben worden, Preußen hatte den Vorteil der Eisenbahn für Militärtransporte erkannt. Als der Krieg gegen Österreich ("Deutscher Einigungskrieg") absehbar war. erteilte sie 1864 dem Eisenbahnkönig Bethel Henry Strousberg die Konzession für die Bahnstrecke. Kriegsminister Albrecht von Roon drängte auf schnellen Aufbau der Bahnverbindung. Gleichzeitig verhinderte Preußen, dass Österreich die strategisch wichtigen Eisenbahnlinie Regensburg-Prag militärisch nutzen konnte.

Seit der Eröffnung 1866 fuhr die Görlitzer Bahn ebenerdig. Dann wurden die Gleise1905 wie überall in der Stadt hochgelegt, um Kreuzungen mit dem zunehmenden Straßenverkehr zu vermeiden. Im Jahr 1896 hielt die Bahn während der Gewerbeausstellung im Treptower Park vorübergehend an einem Bahnhof "Ausstellung". Zwischen dem Görlitzer Bahnhof in Kreuzberg und der Ringbahn am Treptower Park fuhr 1952 der letzte Zug.


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Das Bahnhofsgelände und die Bahntrasse wurden zu einem Park umgestaltet, dessen Ausläufer im Kungerkiez bis hinter die Elsenstraße reichen. Hier kann man im Grünen flanieren und den Kiez von erhobener Warte betrachten. Die Fernbahn gibt es weiterhin, nur werden die Züge heute innerstädtisch parallel zur Ringbahn Richtung Ostkreuz geleitet.

Zwischen der Straße Am Treptower Park und der Görlitzer Bahn baute die Preußische Heeresverwaltung ab 1901 ein Kasernengelände für das Telegraphen-Bataillon Nr. 1 aus. Damit wurde das militärische Fernmeldewesen institutionalisiert. Seit 1832 bestand eine optische Telegrafenlinie von Berlin nach Koblenz, die für höfische und andere nichtmilitärische Zwecke genutzt wurde. Mit Zeigertelegrafen konnten Signale von Station zu Station weitergegeben werden. Innerhalb Berlins verlief der Kommunikationsweg über mehrere Stationen von der alten Sternwarte in der Dorotheenstadt zur Dorfkirche in Dahlem und den Schäferberg in Wannsee. Erst die später entwickelte elektromagnetische Telegraphie wurde dann auch militärisch genutzt. In dem bereits erwähnten Krieg gegen Österreich setzte das Militär erfolgreich mehrere Feld-Telegraphenabteilungen ein. Allerdings hielt man Soldaten für ungeeignet im Umgang mit den Telegraphenapparaten. Die Apparate wurden deshalb von zivile Beamten bedient, die man zur Armee kommandiert hatte. Erst 1899 mit Gründung des Telegraphen-Bataillons Nr.1 wurden alle Aufgaben beim Militär konzentriert. Im Ersten Weltkrieg schließlich entstanden aus der Telegraphentruppe moderne Nachrichtentruppen, das Nachrichtenwesen der Armee wurde völlig neu organisiert.

Die Karl-Kunger-Straße - die dem Kiez den Namen gibt - ist die Verlängerung der Wiener Straße auf der Kreuzberger Seite des Landwehrkanals. Tatsächlich hatte die Wiener Brücke beide Straßen zu einem durchgehenden Straßenzug verbunden Sie war zur Erschließung der Gewerbeausstellung im Treptower Park gebaut worden war. Geschmückt wurde das Brückenbauwerk mit Szenen aus dem Pergamonaltar. Dieses Meistwerk der Antike sollte die Gewerbeausstellung nobilitieren, die eigentlich als Weltausstellung gedacht war. Nach Kriegszerstörung der Wiener Brücke führte mehr als 40 Jahre lang eine Fußgängerbrücke über den Landwehrkanal, die beim Teltowkanal abgebaut worden war. Der durch den Mauerbau funktionslos gewordene Fußgängersteg verfiel und wurde schließlich abgerissen. Die heute als Fußgängersteg genutzte Eisenbahnbrücke der Görlitzer Bahn ist jedenfalls damit nicht identisch.

Der Abriss von Wohnhäusern sei immer eine "tragische Angelegenheit", sagte der Leiter des Berliner Tiefbauamtes. Die Krokodilstränen galten den Häusern in der Treptower Beermannstraße, die dem Weiterbau der Stadtautobahn A 100 von der Grenzallee in Neukölln bis zum Treptower Park weichen mussten. Und er hatte auch einen Trost: Sonst bleibe man mit dem Autobahnbau auf ehemaligem Kleingarten- und Industriegelände. Die betroffenen und die weiterhin gefährdeten Schrebergärtner sehen das ganz anders, aber hier erfahren sie ganz ungeschminkt, dass ihre Parzellen-Paradiese nur städtebauliche Verfügungsmasse sind.


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Aktuell wird der 16.Bauabschnitt realisiert. An der Straße Am Treptower Park sollen die Fahrzeuge von der Autobahn in die überregionale Stadtstraße (Bundesstraße 96 a) eingefädelt werden, vier Ein- und Ausfahrten zur und von der vielbefahrenen Straße sind vorgesehen. Auf der Bundesstraße fahren hier täglich 24.000 Fahrzeuge, an der Anschlussstelle dürften es dann mehrere 10.000 Autos zusätzlich werden, wenn die Stadtautobahn hier endet. Doch in einer Werbebroschüre spielt der Senat die Auswirkungen herunter: "Die Verkehrsbelastung in der Stadt hat trotz neu gebauter Verbindungen abgenommen". Vielleicht fahren die Verfasser dieses Textes nur mit der U-Bahn durch Berlin?

Da unser Stadtentwicklungssenator inzwischen die Verlängerung der Stadtautobahn bis zur Frankfurter Allee für selbstverständlich hält - entscheiden muss das eigentlich das Parlament - wird er die höhere Belastung der Ausfahrt Treptower Park für vorübergehend halten, die man vernachlässigen kann. Tatsächlich soll der nächste (17.) Bauabschnitt noch viel weiter führen und im Lichtenberger Industrieviertel enden, das hat er wahrscheinlich auch schon mitgedacht. Dann ist es nicht mehr weit bis zur Michelangelostraße im Prenzlauer Berg, die auf den Autobahnanschluss wartet.

Die Karl-Kunger-Straße ist - für DDR-Straßenbenennungen und Ehrungen typisch - nach einem kommunistischen Widerstandskämpfer benannt. Für die erste Straßenbenennung 1906 als "Liststraße" waren die Berliner zu dumm. Der geistige Vater des Deutschen Zollvereins Friedrich List sei ständig verwechselt worden mit dem Komponisten Franz Liszt. Deshalb hätte sich der Magistrat gezwungen gesehen, den Namen in "Graetzstraße" abzuändern. Vielleicht wurde auch nur ein Anlass gesucht, um einen verdienstvollen Treptower Industriellen zu ehren? Hugo Max Graetz, dessen Gaslaternen die erste Berliner Straßenbeleuchtung prägten, wurde neuer Namenspate.

Die Karl-Kunger-Straße ist eine Kiezstraße mit Flair. Hier treffen wir den Bildhauer David Laugomer, der neben einer abstrakten Plastik vor seinem Laden steht. Uns faszinieren die Stiere, die er aus Glas, Bronze oder als Keramik formt. Neben den abstrakten Plastiken und den Tierskulpturen sieht man in seinem Laden vor allem Schuhe, deren Design er ebenfalls selbst entwirft. In der Plesser Straße kommen wir mit einer Hausbewohnerin ins Gespräch, die uns stolz den denkmalgeschützten Fahrstuhl in ihrem Haus zeigt. Hinter dem eisernen Schmuckgitter des Fahrstuhlschlachts fährt eine Kabine aus Edelholz, wie man sie nur noch in wenigen Berliner Altbauten findet. Nebenan in der Plesser Straße erhebt sich majestätisch die Bekenntniskirche, deren Name an das Bekenntnis der lutherischen Reichsfürsten zu ihrem Glauben 1530 in Augsburg erinnert. Den Kirchenbau hat ebenso wie die Martin-Luther-Kirche in Mariendorf der Kirchenbaurat Curt Steinberg entworfen.

Die Gaststätte S-Cultur (sprich: Esskultur) am Neuköllner Rathaus war schon öfter unser letztes Ziel beim Flanieren. Der Innenhof ist nicht sehr groß, bei dem warmen Wetter sitzt man gern draußen. Wurstsalat mit warmen Bratkartoffeln und dazu ein Chardonnay (bin ich ein S-Cultur-Banause?) schmecken mir zum Abschluss unseres 6,03 km langen Rundgangs durch den Kungerkiez. Mein Mitflaneur beweist mehr Cultur mit der Wahl von Penne zum Weißburgunder.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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Unsere Route
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Ein seltener Fang
Keine Schienen auf dem Bahndamm