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Von der Lampe zum Schwan


Stadtteil: Nikolassee, Wannsee
Bereich: Sandwerder, Schwanenwerder
Stadtplanaufruf: Berlin, Wannseebadweg
Datum: 8. Juli 2013
Bericht Nr: 425

Wie kann ein Mann, der Petroleumlampen herstellt, so reich sein, dass er eine Insel im Wannsee kauft und sie für die upper class herrichtet? Diese Frage führt uns in die Zeit vor Gasglühstrumpf und elektrischem Licht. 1855 hatte Friedrich Wilhelm Wessel zusammen mit Emil Wild ein Unternehmen gegründet, das Petroleumlampen herstellte und binnen kurzem zum Marktführer aufstieg. Petroleumlampen bestehen aus einem Tank, einem Brenner, einem Docht und einem Glaszylinder. Wessel und Wild hatten die Patente für den Kosmosbrenner, in dem ein flacher Docht oben kreisförmig zusammengeführt wird. Dieser Brenner rußt nicht und riecht kaum, ist mit fast allen Tanks kompatibel, hat eine hohe Lichtausbeute und verbraucht wenig Petroleum. Mit dieser Erfindung waren Wild & Wessel konkurrenzlos, es war die Zeit der industriellen Revolution, Beleuchtung wurde nachgefragt, um Produktionszeiten vom Tageslicht unabhängig ausdehnen zu können.

Die beiden Lampenproduzenten hatten ihre Fabrik in Kreuzberg, privat zog es sie zum Wannsee. Wild baute am Sandwerder 1 eine Villa, Wessel auf dem Nachbargrundstück, bevor er 1882 die Insel "Cladower Sandwerder" erwarb. Die Insel war zunächst ein mit "Knüppelholz dicht bewachsenes Ödland", während der Urbarmachung wurde sie auf seinen Wunsch in Schwanenwerder umbenannt. Wessel ließ die Insel aufschütten, mit dem Festland verbinden und teilte sie in 20 000 bis 30 000 Quadratmeter große Grundstücke auf. Zum Vergleich: Auf einer Fläche, die für 1 Hausgrundstück vorgesehen war, baut man heute in Vororten 100 Einfamilienhäuser. Auch für damalige Verhältnisse waren die Grundstücksflächen außergewöhnlich groß, als Klientel waren Bänker und Industrielle angesprochen. Dafür bot ihnen Wessel eine romantische Inszenierung in üppiger Natur, in einer Parklandschaft mit Sichtachsen zum umgebenden Wasser. Gaststätten, Heilanstalten, jede gewerbliche Betätigung sollte untersagt sein. Eine Kutschfahrt von Berlin nach Schwanenwerder war aber unbequem, deshalb setzte die Nachfrage nach den Grundstücken erst richtig ein, als "Bankierszüge" der Eisenbahn (1) Wannsee mit dem Berliner Zentrum verbanden.

Zu der Inszenierung gehörte eine Säule vom Pariser Palais des Tuileries, dem Königsschloss, das 1871 zerstört worden war. Wessel hatte sie in Paris erworben und - von künstlichem Mauerrest aus einheimischen Klinkern gestützt - auf der Insel aufstellen lassen. Als die französische Besatzungsmacht nach dem Zweiten Weltkrieg hier Beutekunst vermutete, konnte der Vater des "Inselältesten" - Berlins auf der Insel wohnender ehemaliger Polizeipräsident Georg Schertz - den Kauf belegen und damit die Rückkehr der Säule nach Frankreich verhindern. Damit hat die Säule mehr Glück gehabt als ihre holprige Sockelinschrift befürchten ließ:
"Dieser Stein vom Seinestrande / Hergepflanzt in deutsche Lande
Ruft dir, Wandrer, mahnend zu: / Glueck, wie wandelbar bist du."

Während der Wilhelminischen Ära war Schwanenwerder die wohl vornehmste Villenkolonie im Berliner Umland. Es war faktisch eine gated community, in der Bankdirektoren (Disconto-Gesellschaft, Deutsche Bank, Berliner Handels-Gesellschaft, Goldschmidt-Rothschild) und Generaldirektoren (Schultheiss-Patzenhofer, Maschinenfabrikations-Gesellschaft, Seidenweberei Michel & Cie, Kaufhaus Israel) im Sommer gehobene Lebensart zelebrierten und sich im Winter in ihre Palais' in Mitte und Wohnungen am Kudamm zurückzogen. Ein anspruchsvoller Bewohner Schwanenwerders, der mit Ehefrau und 4 Kindern hier wohnte, konnte durchaus 11 Dienstboten beschäftigen (Haus- und Kindermädchen, Koch, Gärtner, Kutscher, Bootsführer).

Die ersten Bauten wurden vorwiegend von zwei Schülern von Alfred Messel errichtet und von Bruno Paul, die Gestaltung der Barockgärten und Landschaftsparks lag oft in der Hand von Gartenarchitekten der Baumschule Späth (2). Bruno Paul war wie Peter Behrens ein Universaltalent als Maler, Designer und Architekt, beide haben den Deutschen Werkbund mit gegründet und bedeutende Architekten wie Mies van der Rohe in ihrem Mitarbeiterstab gehabt. Bruno Paul war international tätig, beispielsweise hat er das Kaufhauses Macy's in New York gebaut, in Berlin das Dahlemer Museum für Völkerkunde, den Zollernhof Unter den Linden (jetzt ZDF). Im Dritten Reich verlor Bruno Paul alle öffentlichen Ämter, trotzdem kam er in die "Gottbegnadeten-Liste" der wichtigsten Nazi-Kulturschaffenden, sozusagen das "Kulturerbe-Verzeichnis" des untergehenden Reiches (3), weil Hitler ihn schätzte.

Bruno Paul erbaute auf dem Grundstück Inselstraße 16-18 das "Haus Waltrud", eine Villa mit 20, 32 oder 70 Zimmern. Die Zimmerzahl schwankt, je nachdem, ob man einer Publikation der Historischen Kommission zu Berlin, der Stadtentwicklungsverwaltung oder des Aktiven Museums vertraut. Je näher man recherchiert, umso mehr widersprechen sich Quellen, die ich jede für sich als seriös einschätzen würde, ein Phänomen, das mir immer wieder begegnet. So mag der Leser sich das Bild eines jedenfalls komfortabel großen Anwesens vorstellen, in das der UFA-Schauspieler und Regisseur Gustav Fröhlich 1936 einzog. Friedrich Wilhelm Wessel hatte für sich selbst auf der Inselstraße 37 den "Schwanenhof" bauen lassen, eines der wenigen historischen Gebäude, das heute noch steht samt seinem türmchenbekrönten Eingangsportal.

"Sie geben mir eine Summe, die Ihnen angemessen erscheint, als monatlich kündbares Darlehen. Der Einzahler übernimmt und trägt keinerlei Verlustrisiko, aber er erhält je Jahr 600 % Zinsen. Nach Jahresfrist wird ihm also das Siebenfache des Darlehens zurückgezahlt". So warb Max Klante, mit dessen Einzug auf Schwanenwerder in den 1920er Jahren eine neue Ära begann, diesmal mit zwielichtigen Gestalten. Wenn Sie glauben, dass jeder darüber nur gelacht hätte, dass Pferdewetten garantierte Gewinne ergeben, dann täuschen Sie sich: selbst im Dresdner Polizeipräsidium befand sich eine Annahmestelle für seine Wetteinsätze, an verbotenes gewerbsmäßiges Glücksspiel hatte damals wohl kein Polizist gedacht. Als das Schneeballsystem mit Pferdewetten zusammen brach, hatte er 260.000 Menschen um 90 Millionen Goldmark geprellt. Rechnet man die 600 % Zinsen ab, die nur auf dem Papier standen, dann haben ihm die Geschädigten wohl um die 10 Mio. Mark anvertraut.

Julius und Henry Barmat waren zwei weitere auf Schwanenwerder zugezogene Finanzjongleure, die mit Hilfe von korrupten Politikern in der Weimarer Zeit ihren Mischkonzern Amexima (Lebensmittel, Papier, Braunkohle, Eisen) solange mit Krediten aufblähten, bis er 1924 zusammenbrach. Zuletzt hatte die Reichspost ihnen zinslos 14 Mio. Mark und die Preußische Staatsbank 10 Mio. Mark ohne Sicherheiten geliehen, der Reichspostminister und sogar ein früherer Reichskanzler waren kompromittiert. Iwan Kutisker, der Barmat-Villennachbar in Schwanenwerder, hatte zur gleichen Zeit durch Beamtenbestechung ebenfalls von der Preußischen Staatsbank 14 Mio. Mark ungesicherten Kredit bekommen und war anschließend pleite gegangen.

"Eine Figur, als habe sie Balzac geschaffen: groß, schwerfällig, mit Bauch und Doppelkinn, feisten Backen, kleinen wachen und hellen Augen, darüber die hohe Stirn. Lebensgier, Genußsucht, Tatkraft, Abenteuer, Erfolge, Niederlage, Gefängnis, Flucht, steiler Aufstieg, Macht. Am Ende Lebensekel, Müdigkeit, das Bewußtsein, gescheitert zu sein." So schrieb die "Zeit" über einen weiteren Bewohner Schwanenwerders, der sich selbst "Parvus" (Der Kleine) nannte: Dr.Alexander Helpland, russischer Emigrant, Freund von Leo Trotzki, Theoretiker der deutschen Sozialdemokratie, Zeitungsverleger, Rüstungslieferant, Vertrauter von Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Hugo Stinnes. Der Spiegel vermutete 2007 sogar, das deutsche Kaiserreich hätte mit Helplands Hilfe die russische Oktoberrevolution finanziert. Helpland war "Millionär und Weltrevolutionär", wie die "Zeit" titelt. Tatsächlich war er eine graue Eminenz mit widersprüchlichen Handlungen, vielen Verbindungen und undurchsichtigem Wirken.

Mit der Machtübernahme der Nazis 1933 begann die letzte Phase der gated community Schwanenwerder. Jüdische Einwohner wurden verdrängt, zu Notverkäufen gezwungen. An ihrer Stelle setzten sich Propagandaminister Goebbels, Hitlers Leibarzt, die "Reichsbräuteschule" und andere führende Nazis in die Anwesen. Über den Konflikt zwischen Goebbels und den Schauspieler Gustav Fröhlich über dessen Lebensgefährtin Lida Baarova hatte ich bereits berichtet (4). Goebbels war froh, als Fröhlich später sein Haus verkaufte und die Insel verließ.

Das Spiel "Monopoly" - eine Einübung in die kapitalistische Tugend, den Mitbewerber in die Insolvenz zu treiben - kam 1936 von Amerika nach Deutschland und machte prompt dem Propagandaminister Probleme. Die teuerste Straße lag im Spiel auf Schwanenwerder, damit hätte das Volk erfahren, wie luxuriös ihr Volksgenosse Goebbels lebte. Dies mag der Grund dafür gewesen sein, dass das Spiel von den Nazis wegen seines angeblich "jüdisch-spekulativen Charakters" verboten wurde (5).

Den Zweiten Weltkrieg überstanden die Gebäude ohne Bombenschäden, doch danach verfielen manche Häuser, meist Anwesen ehemaliger jüdischer Eigentümer. Inventar und Gebäudebestandteile wurden geplündert, solange die Insel unbewacht war. Die amerikanische Besatzungsmacht nutzte einzelne Häuser und Anlagen und veranstaltete auch Kriegsspiele in den Gebäuden. Später kamen kommunale Nutzungen wie Jugenderholungsheime, Axel Caesar Springer baute hier eine Villa für gelegentliche Aufenthalte und das Aspen-Institut, eine internationale Denkfabrik, siedelte sich hier an. Es bezog einen Nachkriegsbau auf dem Gelände, auf dem einmal Goebbels' abgetragenes Gebäude stand. Nur Goebbels' Garage steht noch und sollte 2010 versteigert werden. Dass sich Brad Pitt auf Schwanenwerder ansiedeln würde, ist eine Zeit lang gemunkelt worden. Mehrere Gedenktafeln zur Erinnerung an die früheren Bewohner wurden an der Inselstraße aufgestellt, wobei man auf Stelen vor konkreten Grundstücken verzichtete, wenn Nazi-Tourismus zu befürchten war.

Unser Spaziergang, der uns so ausführlich an die Geschichte von Schwanenwerder herangeführt hat, begann am S-Bahnhof Wannsee, dessen expressionistisch inspiriertes Bahnhofsgebäude von dem S-Bahnarchitekten Richard Brademann (6) erbaut wurde. Am Ostufer des Großen Wannsees führt die Straße Am Sandwerder Richtung Strandbad Wannsee. Es gibt nur wenige Straßen in Berlin, bei denen so wie hier ein Gebäude neben dem anderen als Baudenkmal und viele parkartige Gärten als Gartendenkmal eingetragen sind. Ganz überwiegend sind es die Wassergrundstücke, die geschützt sind. Gleich die Anwesen mit den Hausnummern 1 und 3 gehörten den Lampenfabrikanten Wild und Wessel. Die Villa Am Sandwerder 9 hat Johannes Otzen für sich gebaut, ein Architekt, der in Berlin vor allem in den 1880er Jahren als Kirchenbaumeister hervorgetreten ist, aber auch die Stadtgrundrisse von Lichterfelde und Friedenau hat er geplant. Auf dem Grundstück 41 gibt es ein Nymphenheiligtum, das leider nicht öffentlich zugänglich ist.

Für die Öffentlichkeit zugänglich ist die Borussia-Figur, die von erhobener Aussichtsposition - früher sagte man "Neugier" dazu - auf den Wannsee blickt (7). Borussia, das ist die Personifikation Preußens, so wie Berolina für Berlin steht. Der Name Borussia ist eine lateinische Abwandlung von "Preußen". Das Lied Borussia, dessen Melodie von dem Italiener Spontini stammt, war von 1820 bis 1840 Preußens Nationalhymne:
"Wo ist das Volk, das kühn von That / Der Tyrannei den Kopf zertrat?
Groß, unbezwungen steht es da: / Es ist dein Volk, Borussia!"
Bis 1920 hatte man "Heil Dir im Siegerkranz" gesungen, wenn man König und Nation ehren wollte.

Wie bei unserem ersten Besuch auf Schwanenwerder und am Sandwerder bleiben wir für unser Flaniermahl nicht in Nikolassee oder Wannsee. Heute fahren wir zum Mexikoplatz, wo wir trotz sommerlichen Wetters einen Platz im Vorgarten des Italieners finden und die seit unserem letzten Besuch exklusivere Karte uns – ich gestehe es – auch die Pizza bietet, auf die wir heute beide Appetit haben.
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Zu diesem Bericht gibt es einen Forumsbeitrag: Schwanenwerder (8.7.2013)

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(1) Mehr über Bankierszüge: Heilstätten ohne Zukunft
(2) Mehr über die Späth'sche Baumschule: erlesener Geschmack, bezaubernde Liebenswürdigkeit
(3) Mehr über die "Gottbegnadeten-Liste“:
Deutscher und amerikanischer Heimatstil und Im Innenraum der Rennbahn
(4) Goebbels, Gustav Fröhlich und Lida Baarova: Staatsgefährdende Liebschaft

(5) Die Straßennamen der ersten Monopoly-Lizenzausgabe 1936 waren nach amerikanischer Quelle:
Hutten Straße - Turmstraße - Lehrter Bahnhof - Chaussee Straße - Invaliden Straße - Alt Moabit - Schönhauser Allee - Elektrizitäts Werk - Prenzlauer Allee - Neue König Straße - Bahnhof Alexanderplatz - Alexander Straße - Landsberger Straße - Große Frankfurter Straße - Köpenicker Straße - Warschauer Straße - Wiener Straße - Görlitzer Bahnhof - Oranien Straße - Gitschiner Straße - Wasser Werk - Belle Alliance Straße - Friedrich Straße - Leipziger Straße - Unter den Linden - Potsdamer Bahnhof - Grunewald and Insel Schwanenwerder

(6a) Mehr zum Bahnhofsgebäude Wannsee: Villen am Stolper Loch
(6b) Mehr zur Richard Brademann: Brademann, Richard
(7) Eine weitere Borussia steht im Preußenpark, hier finden Sie ein Bild: Vom Preußenpark zum Olivaer Platz

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Hierzu gibt es eine Forumszuschrift: Von der Lampe zum Schwan (8.7.2013):


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