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Was ist ein Historischer Ort


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Tegel-Süd
Stadtplanaufruf: Berlin, Namslaustraße
Datum: 19. September 2016
Bericht Nr: 561

Die "Siedlung Waldidyll" in Tegel könnte eines der begehrten Wohnquartiere Berlins sein. Die Lage ist hervorragend: Der Forst Jungfernheide direkt im Rücken, der Tegeler See liegt wenige Schritte westlich von hier, und seit Ende der 1950er Jahre gibt es einen U-Bahnhof ein paar Minuten Fußweg entfernt.

Siedlung Waldidyll
Anfang der 1930er Jahre schuf eine Terraingesellschaft - die "Groß-Berliner Boden- und Bau-Gesellschaft" - die Siedlung, indem sie einen Teil des Tegeler Stadtwaldes parzellierte. Hieraus entwickelte sich südlich des Industrieviertels Borsigwalde der Ortsteil Tegel-Süd. Doch das "Waldidyll" blieb eine Ansammlung von Ein- und Mehrfamilienhäusern ohne Charme, ohne Esprit. Wenn die Siedlung überhaupt erwähnt wird, dann höchstens in einem Nebensatz oder wie in der Berliner Morgenpost unter dem Titel "Tegel ist bunt und quirlig" mit der Aussage: "In der benachbarten Siedlung Waldidyll sieht man kaum einen Menschen auf der Straße. Aber man hört welche: Da wird gehämmert und gebohrt, in der Ferne erklingen Kinderstimmen", Ende der Beschreibung. Ein Idyll kann man eben nicht erzwingen.

Fremdarbeiterlager
Im Zweiten Weltkrieg wurde mitten in der Siedlung Waldidyll ein Fremdarbeiterlager eingerichtet. Es erstreckte sich vom Billerbecker Weg bis zum Waldrand, nahm also vier Fünftel der Nordsüd-Ausdehnung der Siedlung ein (450 von 560 Metern). In dem Lager waren 1.500 Menschen interniert. Überwiegend waren es "Ostarbeiter" (Russen, Weißrussen, Ukrainer), aber auch Franzosen und Italiener. "Ostarbeiter" wurden als rassisch minderwertig angesehen und deshalb besonders diskriminiert. Gekennzeichnet wurden sie mit dem "Ostarbeiterzeichen, auf der rechten Brustseite zu tragen". In einem von Albert Speer mitverfassten Rundschreiben wurden sie eingestuft als "Arbeitskräfte, die für schwere Arbeit geeignet sind". Schwangerschaften von Ostarbeiterinnen versuchte man zu verhindern oder abzubrechen.

Berlin spielte eine zentrale Rolle bei der Herstellung von Flugzeugmotoren, Panzern und Geschützen. Der Tegeler Rüstungsbetrieb "Altmärkische Kettenwerke" hatte 1941 im Einzugsgebiet der Siedlung Waldidyll in der Namslaustraße einen Fabrikkomplex erbaut. Ein Jahr später folgte das Fremdarbeiterlager in der Siedlung für die Arbeiter der Kettenwerke. Albert Speer hatte 1942 eine "Lagerbauaktion" gestartet, in deren Verlauf auch dieser Lagerkomplex entstand. Im Folgejahr gab es eine weitere derartige Bauaktion in Berlin. Insgesamt waren in der Stadt wohl an die eintausend Lager angesiedelt, wobei das Fremdarbeiterlager in der Siedlung Waldidyll zu den größten gehörte. Im Verlauf des Krieges mussten über eine halbe Million Menschen in Berlin zwangsweise arbeiten. Zuletzt bestanden in den Rüstungsbetrieben oft 80 bis 90 Prozent der Belegschaft aus zwangsarbeitenden Ausländern.

Altmärkische Kettenwerke
Nach dem verlorenen Ersten Weltkrieg haben die Siegermächte dem Deutschen Reich nur eine kleine Verteidigungsarmee belassen und alle Rüstungsbetriebe geschlossen. Für die Milderung der Reparationen, die Deutschland mit diesem Versailler Vertrag auferlegt wurden, hatte sich Walther Rathenau erfolgreich eingesetzt. Andererseits gab es unter der Hand vor allem im Dritten Reich Bestrebungen zur Wiederaufrüstung, die in Verbänden, Vereinen oder illegalen Truppen wie der "Schwarze Reichswehr" organisiert waren. Im Bereich der Rüstungsgüterproduktion wurden staatliche Investitionen verschleiert, indem man sie als Privatunternehmen tarnte. Das Oberkommando des Heeres unterhielt hierzu beispielsweise eine zivile Tochter namens "Montan Industriewerke GmbH". Die Altmärkischen Kettenwerke, die in Borsigwalde und Tegel-Süd vor allem Panzer herstellten, wurden als Tochterunternehmen der Rheinmetall Borsig AG geführt, gehörten aber tatsächlich zum Staatskonzern "Reichswerke AG Hermann Göring“.

Historischer Ort Krumpuhler Weg
Auf dem Gelände des ehemaligen Zwangsarbeiterlagers hat das Bezirksamt 2010 eine Gedenkstätte eingerichtet, die sich "Historischer Ort" nennt, ergänzt um die Straßenangabe "Krumpuhler Weg". Lagereingänge mit Pförtnerhäusern befanden sich am Billerbecker Weg und am Werdohler Ecke Dattelner Weg. Warum wird also der Krumpuhler Weg genannt, eine benachbarte Straße, die mit dem Lager nichts zu tun hatte? Warum die ausweichende Bezeichnung "Historischer Ort"?. In der Geschichte ist viel passiert, doch um welche Geschichte geht es hier? Das Gelände ist umzäunt und verschlossen, ein Schild droht mit Videoüberwachung. Wenn man sich vorher anmeldet, kommt man hinein, aber nicht spontan - wir bleiben draußen.

Was von den 38 Baracken, der Entlausungsanstalt und dem Schweinestall noch steht, können wir nicht sehen. Auch die Spuren der Nachkriegs-Umgestaltung in eine Gartenarbeitsschule und ein Mädchenerziehungsheim bleiben uns verborgen. Zehn Gedenkbänke aus Beton ohne Rückenlehne sind überwiegend dort drinnen aufgestellt worden. Wenn man draufsitzt, kann man die im "Fotobetonverfahren" neben der Sitzfläche aufgetragenen Informationen nicht mehr lesen, im Stehen muss man sich bücken, um sie anzusehen.


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Am Werdohler Weg benutzt die Kita Waldräuber eine Baracke an der Straßenfront und weitere Gebäude im Innenbereich aus der Lagerzeit. Das Gelände bleibt natürlich verschlossen, nur eine niedrige Info- und Gedenkbank vor dem Zaun erläutert, dass hier eine Sanitätsbaracke eingerichtet war und zweistöckige Unterkünfte für Franzosen und Italiener.

Die Siedlung Waldidyll und der "Historische Ort" hinterlassen ein zwiespältiges Gefühl. Hat man die Gedenkstätte unzutreffend benannt, eingezäunt und zugeschlossen, um die Anwohner zu schonen oder ihrem Protest zu entgehen? Eine ähnliche Gedenkkultur haben wir beim Waldkrankenhaus Spandau beobachtet, das die Bauten der Nazi-Arbeitersiedlung "Große Halle" auf seinem Gelände hat und eine Ausstellung darüber nur zugänglich macht "bei entsprechender Anmeldung im Sekretariat des Verwaltungsdirektors".

Tegeler Gaswerk
Die Namslaustraße, an der die Fabrik der Kettenwerke liegt, ist benannt nach dem Gründer des Tegeler Gaswerks, Julius Namslau, der auf Dienstreisen durch Belgien, England und Frankreich Erfahrungen und Erkenntnisse über die dortigen Gaswerke sammeln konnte. Das Tegeler Gaswerk hatte Bahnanschluss und Wasseranschluss, sein Gelände erstreckte sich von der Berliner Straße bis zum Tegeler See. Bei der Inbetriebnahme 1905 war es Europas größtes und modernstes Gaswerk. Über einen Hafen mit Verbindung zum Tegeler See brachten Lastkähne die Kohle zum Kohlespeicher. Bis 1953 war das Gaswerk in Betrieb, heute haben Biber den ehemaligen Hafen als Revier erobert. Dass im Boden eines ehemaligen Gaswerks Altlasten ruhen, ist nahe liegend.

Die Gewobag erwarb das Gelände und bebaute es mit Hochhäusern, je zwei links und zwei rechts vom Gaswerkshafen. Als sie das Geld für Baumaßnahmen von Anlegern einsammelte, wurde es kritisch, denn sie verschwieg den Geldgebern, dass es Cadmium, Blei, Kohlenwasserstoffe und Arsen im Boden gibt. Zwei Millionen Euro soll die Baugesellschaft laut Gerichtsbeschluss ihren Geldgebern als Schadensersatz bezahlen, aber hält sie dagegen, dass einzelne Bodenbereiche ausgehoben und entsorgt worden seien.


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Art Park Tegel - Wandbemalung OneWall
Die Gewobag baut und vermietet nicht nur, sie setzt sich auch mit dem Umfeld auseinander, in dem ihre Wohnungen stehen. So hat sie das Street-Art-Projekt "Urban Nation" ins Leben gerufen, das mit Wandbildern Kunst ins Stadtbild bringt. In der Bülowstraße hat sie einen ganzen Straßenabschnitt zwischen zwei Hochbahnhöfen zu Bildergalerien umgestaltet, das wurde begeistert aufgenommen. Beim Art Park Tegel - einem Wandbild-Projekt in der Namslaustraße - war die Reaktion nicht so positiv. Aber die Kunst ist frei, sonst ist sie keine Kunst. Nur über die Wahl des Künstlers kann man etwas Einfluss nehmen. Muss ein Wandbild "schön" sein? Darf es unbequem sein?

Wenn der spanische Street-Art-Künstler Gonzalo Borondo eingeladen wird, dann ist klar: In seinen Bildern geht es darum, wie Menschen mit Menschen und ihrer Umwelt umgehen. Er nimmt die Themen der Zeit und des Umfeldes auf, bringt in großem Format Körper ins Bild, Menschen in Haltungen, die Emotionen auslösen. Borondo hat eines der sieben in der Namslaustraße geplanten Murals (Wandbilder) gemalt, doch was sieht man dort?

Das Wandgemälde zeigt ein Mädchen, das die Hände ans Gesicht gelegt hat. Der Boden, auf dem das Mädchen steht, ist rot gefärbt, das Kleid hat rote Spuren. Die zweite Hälfte des Murals zeigt einen Wald, in dem ein Mensch, von mehreren Pfeilen getroffen, an einem Baum steht. Manche sehen das Mädchen "in einer Blutlache stehen". Tropft Blut in dünnen Rinnsalen an seinem Körper herunter? Oder hat der Künstler den Faltenwurf des Kleids nur mit rötlichen Strichen betont und die angebliche Blutlache ist nur ein farbiger Fußboden?


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Die Fugen im Fliesenboden sind jedenfalls weiß und nicht rot, da ist keine Blutlache. Das Kind blickt auf die rechte Seite des Bildes. Ist dort ein nackter, blutüberströmter Körper an die kargen Baumstämme "gefesselt"? Oder blickt das Kind auf einen Menschen, der - obwohl von Pfeilen getroffen - aufrecht steht und stark ist? Ist der aufrecht und stark stehende Mensch gar der Heilige Sebastian, der wegen seines Glaubens von Pfeilen durchbohrt wurde?

Über den Inhalt des Bildes sind sich die Betrachter - natürlich - nicht einig. Borondo könnte das Flüchtlingsthema angesprochen haben, hier in der Nähe entsteht ein Flüchtlingslager. Tatsächlich sieht er selbst sein Bild als Appell, "das Flüchtlingsdrama nicht mehr nur aus vermeintlich sicherer Entfernung zu betrachten, sondern sich direkt damit auseinanderzusetzen". Aber da hat sich etwas aufgeschaukelt. Die Mitglieder einer Anwohnerinitiative sind sich einig, das "brutale Hochhausgemälde" muss weg. Sie sammelten schon Hunderte Unterschriften gegen das "Ekel-Bild in Tegel", vermeldet die B.Z.

Insgesamt will die Gesobau an den Seitenwänden der Hochhäuser sieben Murals entstehen lassen, bevor sie mit den Anwohnern ins Gespräch geht. Einige Bilder sind schon fertig, doch die aufgeladene Diskussion über das Borondo-Bild lässt kaum einen Blick auf die anderen zu. Die beiden Holländer Collin van der Sluijs und Super A haben einem kleinen Starenvogel ein 42 Meter hohes Bild gewidmet. Schaut man näher drauf, dann verbirgt sich ein ganzer Kosmos unter seinem Gefieder. Auch andere Künstler haben hier Murals geschaffen, über die nicht kontrovers diskutiert wird. Die Zwillingsbrüder How and Nosm greifen mit ihrem Werk „On tiptoes“ - auf Zehenspitzen – nach den Sternen. Fintan Magee hat den „Summer of Peace“ gestaltet: Durch eine vom Krieg zerstörte Landschaft gehen zwei Menschen, suchen einen Neuanfang nach der Zerstörung.

Drei Kirchen
Der Baukonzern Philipp Holzmann hatte 1941 in der Namslaustraße die Rüstungsfabrik für die Altmärkischen Kettenwerke gebaut. Als der Krieg vorbei war, da gab es um die Ecke wieder Arbeit für diese Baufirma, die evangelische Martinus-Kirche war zu errichten. Wegen der Gesobau-Hochhäuser auf dem ehemaligen Gaswerksgelände erwartete die evangelische Kirche erhöhte Nachfrage, für die die Philippikirche in der Siedlung „Waldidyll“ nicht ausreichen würde. Auch die Katholiken hatten mit der St. Bernhard Kirche an der Sterkrader Straße nach dem Zweiten Weltkrieg ein eigenes Gotteshaus eingeweiht.

Für unser Flaniermahl fahren wir nach Mitte in die Chausseestraße. Ein Italiener, der Bier nicht aus dem Hahn zapft und keinen Chardonnay anbietet, aber für eine Pizza nur 5,90 nimmt - was soll man davon halten? Dazu ist die Bedienung unaufmerksam, wiederholen müssen wir unseren Besuch nicht. Zu dem niedrigen Pizza-Preis sagt mir ein Nachbar, dessen Zunge nach jahrelangem Pizza-Margherita-Verzehr in vielen verschieden Lokalen für die Zutaten sensibilisiert ist, dass oft der Mozzarella hier auf der Pizza wohl eher aus der Fabrik als von Kuh oder Büffel stamme.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route:
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Kleingärtner auf der Hallig
Aus Bauernhöfen werden Fabriken