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Doppel-Dorf überwindet zweifelhaften Ruf


Stadtteil: Neukölln
Bereich: Böhmisches Dorf Rixdorf
Stadtplanaufruf: Berlin, Richardplatz
Datum: 17. Juni 2013
Text-Nr.: 424

"Der jüngsten Stadt im Deutschen Reich / Sei unser Lied geweiht
Kein Ort kommt unserm Rixdorf gleich / Wohl an Gemütlichkeit.
Wir war'n als Dorf schon kreuzfidel / Als Stadt auch woll'n wir's sein
Mit Traurigkeit, bei meiner Seel' / Läßt man sich hier nicht ein"

Der "Theater- und Unterhaltungsverein zu Rixdorf" brachte dieses Loblied in einem "lokalhistorischen Festspiel" auf die Bühne, als Rixdorf 1899 das Stadtrecht erhielt. Damit erreichte die in Preußen beispiellose Entwicklung eines Doppel-Dorfes südlich der Residenzstadt Berlin ihren Höhepunkt. Der Templerorden und dann der Johanniterorden waren - wie in Tempelhof, Mariendorf und Marienfelde (1) - nacheinander Eigentümer des im 14.Jahrhundert gegründeten Dorfes Richardsdorp, das sich um den Dorfanger (heute Richardplatz) gruppierte. Als der Soldatenkönig in den 1730er Jahren für böhmische Exilanten ein neues Dorf "Böhmisch Rixdorf" nördlich des bestehenden anlegen ließ (Richardstraße, Kirchgasse, Donaustraße), wurde das alte Dorf zur sprachlichen Abgrenzung "Deutsch Rixdorf" genannt. Die protestantischen Glaubensflüchtlinge aus Böhmen hatten zunächst Schutz unter dem "Hut des Herrn" von Zinzendorf in der Oberlausitz gefunden, daher stammt ihr Name als "Herrnhuter" Brüdergemeine (1a). Nach Konflikten über Glaubensfragen zog ein Teil der Flüchtlinge weiter nach Böhmisch Rixdorf und siedelte sich hier an.

Die beiden Dörfer entwickelten sich bald parallel, um 1800 hatte jedes mehr als 300 Einwohner. Ein schwerer Dorfbrand veränderte 1849 das Gesicht beider Orte, die dann 1874 zu einer Einheitsgemeinde zusammen gelegt wurden. Rixdorf war das größte Dorf im Umkreis von Berlin, bei der Verleihung des Stadtrechts 1899 lebten hier bereits mehr als 90.000 Einwohner.

Welche dörflichen Spuren sind bis heute sichtbar geblieben? Eine Frage, die wir uns beim Begehen der ehemaligen Berliner Dörfer immer wieder stellen. Dorfkirche mit Kirchhof und Dorfanger weisen uns den Weg, eine Schmiede gehört dazu, von Backsteinpfeilern gesäumte Toreinfahrten führen auf ehemalige Bauernhöfe mit Remisen und Scheunen. Einfache Häuser der Büdner und Kossäten und Wohnhäuser der wohlhabenden Bauern, eingezäunte Vorgärten an der Dorfstraße. Verschiedene Entwicklungsphasen: Zuerst stehen die Häuser mit der Giebelseite zur Straße, später mit dem Dach (Traufseite). Schließlich der Übergang vom landwirtschaftlichen zum städtischen Charakter mit Miethäusern und Gewerbebetrieben.

Zwischen Richardstraße und Donaustraße ist das Dorfensemble Böhmisch Rixdorf weitgehend erhalten geblieben. Entlang der Richardstraße erzählen schmale und niedrige Häuser - mal mit dem Giebel, mal dem Dach zur Straße - von der Ansieldung der Böhmen. Mehrere Wohnhäuser und Nebengebäude sind aus dem Gründungsjahr 1737. Dem Soldatenkönig, der den Flüchtlingen Heimat gab, wurde an der Kirchgasse ein Denkmal gesetzt (2). Der Böhmische Gottesacker am Karl-Marx-Platz gibt sich verschlossen, obwohl er der zweitälteste noch benutzte Friedhof von Berlin ist. Am Richardplatz - also dem Dorfanger von Deutsch Rixdorf - steht die böhmische Bethlehemskirche. Es ist die ehemalige Dorfkirche von (Deutsch-)Rixdorf, die 1884 an die Böhmisch-Lutherische Gemeinde übergeben wurde. Heute gehört sie zu der vereinigten evangelischen Kirchengemeinde Rixdorf.

Der Dorfanger von Deutsch-Rixdorf - also der Richardplatz - ist ebenfalls ein Ensemble mit historischen Bauten. Das älteste Gebäude ist die Schmiede von 1797. Eine Trinkhalle von 1910 steht auf dem Platz. In den 1850er bis 1890er Jahren gebaute Bauernhäuser mit Ställen und Nebengebäuden säumen den Platz, aber auch reich verzierte Wohnbauten. An einer Straßenpumpe wird gerade geflirtet, als wir vorbeigehen, die bisher so rare Sonne verleiht den Herzen Flügel, wenn sie scheint. Ein Ortseingangsschild verkündet, dass hier "Zuhause" beginnt.

Die Wohnbauten mit der Anmutung eines Palais' geben einen Hinweis darauf, warum Rixdorf 1912 in "Neukölln" umbenannt wurde. Es war eine Imagemaßnahme, um Bessergestellte anzulocken und einen schlechten Ruf abzustreifen, ähnlich wie bei Dalldorf, das sich wegen des gleichnamigen Irrenhauses 1905 in Wittenau umbenannte (3). Wenn die Berliner in Scharen ins Umland einfielen, um sich dort zu amüsieren, konnte das leicht ausarten (4). Ein Schlager besang "In Rixdorf ist Musike", aber es blieb nicht bei den Klängen der Musik. Frivole Engtänze wie der Schiebertanz und lockeren Sitten erschreckten die Rixdorfer, es wurde getanzt, getrunken, gestritten, Messer und Fäuste wurden eingesetzt. Dem Image von Armutsquartier und proletarischem Vergnügungsviertel setzte man einen Namen entgegen, der an die historische Entwicklung Berlins aus "Cölln" und Berlin anknüpfte. Imageprobleme - wenn auch andere - hat Neukölln heute wieder, aber an einen neuen Namen für den Bezirk denkt niemand.

Wie kam es zur rasanten Entwicklung vom Dorf zur Stadt? Die industrielle Revolution und die Reichsgründung brachten einen gewaltigen Schub für den Wohnungsbau rund um die Residenzstadt. Rixdorf profitierte davon, dass es gute Verkehrsverbindungen hatte, ohne die damals keine Ansiedlung möglich war. Seit 1872 gab es einen Haltepunkt an der Ringbahn, 1875 folgte die Pferdebahn zum Halleschen Tor und später zum Blücherplatz und nach Schöneberg. Der Bauboom hatte aber einen weiteren Vorteil für Rixdorf: Mit den Rollbergen nördlich des Dorfes verfügte es über ein Vorratslager an Kies als Baumaterial, und so wurde in den 1860er Jahren die Erhebung abgetragen (5) und das gewonnene Material verkauft. Auf dem vom Berg befreiten Gelände entstand eine Arbeitersiedlung mit "Stube-Küche-Wohnungen" ohne Innentoiletten, die zusätzliche Vermietung der überbelegten Wohnungen an "Schlafburschen" half den Bewohnern, die horrenden Mieten zu bezahlen.

In der Denkmaldatenbank werden oft Maurermeister als Architekten genannt. Die Vorstellung, dass vielfach ein Maurer ein Haus geplant, ausgestattet und realisiert hat, befremdet uns vielleicht, wird aber durch die Ausbildung an Baugewerkschulen verständlich. Dort wurden Bauhandwerker unterrichtet in Baumaterialienkunde, Baukonstruktionslehre, Lehre von den Baustilen, Ausführung und Veranschlagung von Gebäuden, Freihand- und Linearzeichnen, Konstruieren und Entwerfen von Bauteilen und einfachen Gebäuden, Modellieren von Holz- und Steinkonstruktionen und konnten so mit einem umfassenden Wissen ähnliche Tätigkeiten wie Architekten ausführen. Fachhochschulen wie die Beuth-Hochschule haben oft Baugewerkschulen als Vorgänger-Institutionen, was für deren Qualität spricht.

Nach soviel "Rix" war es klar, dass wir im Café Rix im Saalbau Neukölln einkehren. Im ruhigen Hofgarten, unter einer großen Kastanie sitzend, konnten wir dem Wetter entsprechend ein leichtes Flaniermahl zu uns nehmen.

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(1) Mehr über Rixdorf und andere Berliner Dörfer: Dörfer
(1a) Von anderen BrüdergemeinDen unterscheidet sich diese Brüdergemeine durch ihre alte Schreibweise ohne "d"
(2) Ein früherer Spaziergang im böhmischen Dorf: Wasserturm und Kaiser-Friedrich-Wilhelm-Denkmal
(3) Aus Dalldorf wird Wittenau: Wir kommen aus Dalldorf
(4) Volksfeste mit schlechtem Ruf: Volksfest
(5) Die Berliner bauen ihre Berge selber, hatte ich über die Trümmerberge geschrieben, aber genauso tragen die Berliner auch Berge ab, wie beispielsweise den Mühlenberg in Schöneberg, siehe Erziehen mit Geduld und Arbeit und die Marienhöhe in Tempelhof, siehe In der Kiesgrube verbuddelt


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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Gebaute Hygiene
Wasserturm und König-Friedrich-Wilhelm-Denkmal