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Wenn ein Finanzminister Plus und Minus verwechselt


Stadtteil: Mitte
Bereich: Bundesfinanzministerium
Stadtplanaufruf: Berlin, Leipziger Straße
Datum: 1. November 2023
Bericht Nr.:821

"Was Steuern sind und wozu wir sie zahlen", steht in einer Broschüre des Bundesfinanzministeriums. Im Vorspann sieht man Finanzminister Christian Lindner gedämpft lächeln, so als wolle er die Freude über das Erringen des Finanzministeriums nicht zu sehr sichtbar werden lassen.

"Der Staat nimmt zwar weniger Steuern ein als erhofft - aber mehr als je zuvor", hatte Lindner als Minister gesagt. Das muss man auf sich wirken lassen. Und wenn man "weniger" und "mehr" in diesem Satz gegeneinander aufgewogen hat, dann war es wohl eine positive Aussage. Ist aber auch egal, wenn man sich an den Ausspruch seines Vorvorgängers Wolfgang Schäuble erinnert: "Man muss beim Rechnen nur Plus und Minus verwechseln. Dann ischt alles ganz einfach.” Bundeskanzlerin Merkel hatte wenigstens nur Brutto und Netto verwechselt.


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Christian Lindner, jüngster Finanzminister der Bundesrepublik
Lindner hat mit dem Ministerium als Jüngster der 20 Finanzminister der Bundesrepublik sein Ziel erreicht, und Kanzler will er erklärtermaßen nicht werden (könnte er auch nicht bei einer Partei, die die Fünf-Prozent-Hürde bei Wahlen kaum schafft). Vor 12 Jahren, im Dezember 2011, hatte Lindner als FDP-Generalsekretär im Ringen mit dem damaligen Parteichef Philipp Rösler erklärt: "Es gibt den Moment, in dem man seinen Platz frei machen muss, um eine neue Dynamik zu ermöglichen" und ist zurückgetreten ("Auf Wiedersehen").

Als Finanzminister sieht er keinen Anlass für ein solches Statement, im Gegenteil, er klopft sich staatsmännisch auf die Schulter: "Ich sage mir, irgendwann wird es Menschen geben, die erkennen, der FDP-Vorsitzende und Finanzminister hat in einer schwierigen Lage den Kurs gehalten". Also kein Grund, das Regieren zu lassen wie im November 2017, als er die Koalitionsverhandlungen beendete mit der Einsicht: "Es ist besser nicht zu regieren, als falsch zu regieren". Offensichtlich wird jetzt "richtig regiert" in der Ampel.

Das Ministerium
Auch wenn die Steuerabteilung des Ministeriums von der Öffentlichkeit - der man ins Portemonnaie greift - am stärksten wahrgenommen wird, gibt es eine Vielzahl weiterer Aufgaben und Abteilungen: Zoll, Bundeshaushalt, Finanzmarktpolitik, Finanzbeziehungen zu den Ländern, Beteiligungen, Bundesimmobilien, Internationale Finanzpolitik. Im Ministerium arbeiten 2.100 Angestellte und Beamte.

Das Gebäude als Geschichtsort
Das Finanzministerium ist ein Gebäude mit einer geschichtlichen Dichte wie kaum ein anderes in Berlin. Als Reichsluftfahrtministerium 1936 unter Reichsmarschall Hermann Göring erbaut, bereitet dieser dort mit dem verdeckten Aufbau der Luftwaffe den Zweiten Weltkrieg vor und amtiert in einer Ämterhäufung als Preußischer Ministerpräsident, Reichstagspräsident, Oberbefehlshaber der Luftwaffe, Generalfeldmarschall der Wehrmacht, Reichsmarschall des Großdeutschen Reiches und als Reichsbeauftragten für den Vierjahresplan.

Nach Kriegsende übernahm die Sowjetische Militäradministration den einigermaßen unbeschädigten Bau. Die Sektorengrenze zu West-Berlin und die Mauer verliefen direkt an der Niederkirchnerstraße hinter dem Gebäude. Im Festsaal des Gebäudes (heute Matthias-Erzberger-Saal) wurde 1949 die DDR gegründet, 1961 verkündete Ulbricht dort in einer Pressekonferenz die "Nichterrichtung" einer Mauer ("Niemand hat vor, eine Mauer zu errichten").


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Zur DDR-Zeit war das Gebäude das "Haus der Ministerien" mit 16 Ministerien und Behörden. Beim Volksaufstand 1953 war es das Ziel der protestierenden Arbeiter. Und während der Mauerzeit gab es eine Flucht in den Westen vom Dach des Hauses.

Nach der Wende wurde das Haus bis 1994 Sitz der Treuhandanstalt für die Abwicklung der DDR-Betriebe. Im Eingangsbereich wurden die Logos der wichtigsten Ostfirmen gezeigt mit dem Slogan "Taste the East". Der Treuhand-Chef Detlef Rohwedder, nach dem das Haus heute benannt ist, fiel einem Mordanschlag zum Opfer. Die Bilanz der Treuhand ist niederschmetternd, Arbeitsplatzverlust und Betriebsschließungen ließen viele ostdeutsche Menschen verzweifelt zurück.

Nach dem Bonn-Berlin-Umzug übernahm schließlich das Bundesfinanzministerium den Gebäudekomplex und versucht seitdem, ihn zukunftsfähig zu machen. Die Gebäude sind nicht isoliert, sie bröckeln innen, Grundwasser setzt ihnen zu, das Souterrain schimmelt. Überbordende Akustik kann die Räume in eine "Akustikhölle" verwandeln. In der Zeit nach Corona versucht man jetzt, die Büros wieder zu füllen, denn das Personal ist zu 68 % abwesend im Homeoffice. Das sind alles Zitate aus einer Führung des Besucherdienstes.

Architektur
Der Architekt Ernst Sagebiel hat das Gebäude 1936 errichtet. Es war mit 2.000 Räumen das größte Bürogebäude Berlins. Später baute Sagebiel für die Nazis den Flughafen Tempelhof, damals das größte Gebäude der Welt. Das monumentale Ministerium ist eine Stahlbetonskelettbau, der mit Muschelkalkplatten verkleidet ist. Das Haus hat ein Flachdach. Im Innern wechseln sich Repräsentationsbereiche ab mit nüchternen, langen Bürogängen, die insgesamt fast 7 km lang sind. Für die Personenbeförderung wurden Paternoster eingebaut.


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Das Gebäude war von vornherein auf den geplanten Krieg ausgerichtet. Unter dem Vorplatz an der Leipziger Straße war ein unterirdischer Luftschutzbunker vorhanden. Ein Tiefbrunnen und ein unterirdisches Wasserwerk machten das Gebäude unabhängig vom städtischen Trinkwasser. Auf dem Dach waren schon in der Bauzeit Flakabwehrstellungen eingeplant. Das Wasserwerk wurde erst in den 1980er Jahren stillgelegt.

Nachnutzung in der Demokratie
Nazibauten in der Demokratie weiter zu nutzen, ist ein sensibles Thema. Wichtig ist, dass die Vergangenheit dokumentiert wird und nicht in Vergessenheit gerät. Die Monumentalbauten zeigen auf den ersten Blick, in welcher Zeit sie entstanden sind, auch wenn Hakenkreuze, Adler und Feldherrenköpfe entfernt worden sind und die umgebende Bepflanzung neugestaltet wurde. Im Innern einen neuen Geist zu installieren, ist eine Herausforderung. Das Gebäude muss von der Demokratie "übernommen" werden, ohne dass historische Schauplätze in den Räumen verschwinden. Repräsentationsbereiche müssen den demokratischen Gepflogenheiten angepasst werden. Hierzu gehören natürlich Hoheitszeichen wie Flaggen, aber auch Kunstwerke der Gegenwart.

Man betritt das Haus durch die Steinhalle an der Leipziger Straße. Am Treppenaufgang wurden zur Bauzeit an der Wand ein Reichsadler und ein Zitat Adolf Hitlers angebracht, in der DDR-Zeit das Staatswappen mit Hammer, Zirkel und Ährenkranz. Die Treuhandanstalt zeigte an dieser Wand die Logos bekannter ostdeutscher Marken, die aus dem Staatseigentum in die Marktwirtschaft überführt werden sollten.

Das Bundesfinanzministerium ließ bei seinem Einzug ein übergroßes abstraktes Gemälde installieren, das keinen Titel trägt und somit Gedankenfreiheit zulässt. Als Zitat aus der DDR-Zeit ist in einem Raum eine wandfüllende Installation aus Meißner Porzellan angebracht. Die Wandgestaltung mit Blütenkelchen sollte Kaffeehaus-Atmosphäre erzeugen, sie stammt aus dem Palast der Republik und ist auf ungeklärte Weise von dort verbracht worden.


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Und noch ein Kunstwerk: Im Innenhof steht, aus Stahl geformt, "Vom Lauf der Dinge". Trotz seiner Größe - es nimmt einen Teil des Hofes ein - strahlt es mit seinen kreisrunden radähnlichen Windungen und dem filigran wirkenden Vierkantstahl Leichtigkeit aus.

Kommentiertes Wandgemälde
Man kann bei der Nachnutzung historische Darstellungen kommentieren oder durch "Bild und Gegenbild" konterkarieren. Hinter den Säulen an der Leipziger Straße hat die DDR im Januar 1953 - ein halbes Jahr vor dem Volksaufstand - ein monumentales Wandbild auf Meißner Porzellan-Kacheln auftragen lassen, eine naive Vision einer glücklichen sozialistischen Gesellschaft.

Staatspräsident Wilhelm Pieck mit dankbaren Arbeitern ist dort zu sehen und eine Gruppe von demonstrierenden Arbeiter/innen. Auf dem Wandbild marschieren sie noch für den Sozialismus, im Juni dann auf der Straße unerwartet gegen die Staatsführung, für bessere Löhne und gegen Bevormundung und Repression. Dieser Teil der Wahrheit wurde natürlich bis zum Ende der DDR unterdrückt. Ein Gegenbild gleicher Größe zum Wandbild wurde nach der Wende im Boden des Vorplatzes eingelassen, es zeigt die Realität des Aufstands.


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Flucht in den Westen
Zu der Dichte geschichtlicher Ereignisse im Zusammenhang mit diesem Gebäude kommt noch eine gelungene "Republikflucht" vom Flachdach des Hauses. Ein Industrieökonom aus Leipzig konnte sich vier Jahre nach dem Mauerbau mit seiner Familie auf einem 120 Meter langen Stahlseil vom Dach in den Westen abseilen, die Mauer verlief direkt am Haus. Helfer auf West-Berliner Seite spannten die Seilbahn mit Hilfe eines LKW. Dabei wurden sie von sowjetischen Beobachtungsposten gesehen, die zur Luftbeobachtung auf dem Dach stationiert waren, aber nicht eingriffen, weil sie sie für DDR-Agenten hielt, die heimlich in den Westen eingeschleust werden.

Auf dem Rundgang durch das Gebäude kommt man an der "Geldstelle" des Ministeriums vorbei, die nur an zwei Wochentagen für kleine Ausgaben geöffnet ist. Typisch Steuerverwaltung, Ausgaben nur an zwei Tagen, aber Einnahmen wollen sie jeden Tag haben. Versäumt man den passenden Tag, muss man zusätzlich noch Säumniszuschläge bezahlen.
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Halskrausen aus der Krausenstraße
Das letzte Amen in der Kirche