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Halskrausen aus der Krausenstraße


Stadtteil: Mitte
Bereich: Zeitungsviertel
Stadtplanaufruf: Berlin, Krausenstraße
Datum: 25. Oktober 2023
Bericht Nr.:820

Friedrich der Große ordnete 1740 an, dass "dem hiesigen Berlinschen Zeitungs Schreiber eine unumbschränckte Freyheit gelassen werden soll zu schreiben was er will", auch wenn dann seine Ministerien "in den hiesigen Zeitungen hin undt wieder Paßagen antreffen (würden), so Ihnen misfallen könnten". Damit war der Grundstein für die Pressefreiheit gelegt, seitdem wird seit drei Jahrhunderten immer wieder um Wahrheit, Gerechtigkeit und freie Meinungsäußerung gerungen. Mit der Pressefreiheit war auch das Entstehen des Zeitungsviertels während der Industrialisierung und des Massenzuzugs Ende des 19. Jahrhunderts möglich. In Kaiserzeit und der Weimarer Republik entwickelte sich das Zeitungsviertel in der südlichen Friedrichstadt zum größten Presseplatz weltweit.

Das Zeitungsviertel
Es begann mit Rudolf Mosses Anzeigenagentur, in der er die Anzeigenseiten in- und ausländische Zeitungen und Zeitschriften betreute. Ab 1872 druckte er das "Berliner Tageblatt" mit redaktionellen Inhalten und Anzeigen, das zur auflagenstärksten Zeitung im Deutschen Kaiserreich wurde. Weitere Massenblätter folgten von Ullstein ("Berliner Zeitung") und von Scherl, "Berliner Lokal-Anzeiger", mit einem Anzeigen- und Stellenmarkt.

Während des Spartakus-Aufstands 1919 fanden im Zeitungsviertel Kämpfe statt, Zeitungsstapel und Druckpapierrollen wurden als Barrikaden benutzt. Das Mosse-Haus an der Jerusalemer Ecke Schützenstraße wurde bei den Auseinandersetzungen schwer beschädigt. Erich Mendelsohn ergänzte den Rest des von Cremer & Wolfenstein errichteten repräsentativen Gebäudes mit einer expressionistischen Ecklösung, die "das schnelle Tempo der Straße aufnimmt und bändigt".


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Im Zweiten Weltkrieg wurde das Zeitungsviertel durch Bombardierung fast vollständig zerstört. Bei der Teilung Berlins in der Nachkriegszeit verlief die Mauer an der Zimmerstraße mitten durch das alte Zeitungsviertel. Der Zeitungsstandort existierte nicht mehr, bis in dem West-Berliner Restviertel erst Axel Springer und sehr viel später die Tageszeitung taz Verlagsgebäude an der Kochstraße errichteten.

Nach der Wende wurde Berlin wieder zum Medienstandort, in der ganzen Stadt arbeitet eine Vielzahl von Verlagen, Filmgesellschaften und Betrieben digitaler und audiovisueller Medien. Die taz ließ sich im alten Zeitungsviertel ein neues Verlagsgebäude an der Friedrichstraße bauen. Und Springer begleitete den Umbau seines Medienkonzerns auf das digitale Zeitalter durch einen Neubau zwischen Schützen- und Zimmerstraße.

Rem Koolhaas stellte dort einen "schwarzen, kantigen, aalglatten Block hin, aus dessen Innern eine mehrfach geknickte Glasskulptur herausquillt". Es ist eine avantgardistische Medienzentrale für das Internetzeitalter: "Gebautes Internet". Podeste und Sitzstufen als mögliche Arbeitsplätze und Freiflächen mit Sitzgruppen und Besprechungstischen lösen die Großraumbüros ab.

Touristenmeile Checkpoint Charly
Auf unserem Rundgang zwischen Krausenstraße und Zimmerstraße streifen wir die von Touristen belagerten Ausläufer des Checkpoints Charly mit den Menschentrauben, die an den Lippen von Stadterklärern hängen. Dort kann man in ein Trabbi-Museum gehen oder mit einem Fesselballon in den Himmel aufsteigen. Auch ein Currywurst-Museum gab es dort zeitweise.


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Vom Wohnviertel zum Geschäftsviertel
Wir treffen dort heute nicht auf "das Zeitungsviertel", sondern auf ein Stadtviertel, das sich im Laufe der Jahrhunderte vom Wohnviertel zu einem Geschäftsviertel gewandelt hat, in dem die baulichen Entwicklung über einen Zeitraum von 150 Jahren beobachtet werden kann. Friedrich I., König in Preußen, hatte die Friedrichstadt 1688 - noch als Kurfürst - als Wohnviertel gegründet. Das gleichmäßige Straßenraster führte bis zur Zimmerstraße und wurde durch die Mauerstraße flankiert. Um 1900 verdrängten neue Geschäftsbauten die älteren Wohngebäude, von denen nur wenige Zeugnisse erhalten blieben.

Angesehene Architekten errichteten die neuen Geschäftshäuser in repräsentativer Gestaltung, überwiegend mit historisieren Fassaden. Typischerweise nutzte der Eigentümer das Gebäude nicht selbst, sondern es gab unterschiedliche Mieter mit Firmenrepräsentanzen, Läden, Produktionsräumen, Magazinen und Büros. Oft ließen frei einteilbare Flächen vielfältige Nutzungsmöglichkeiten zu.

Mehrfach wurden Grundstücke im Straßenkarree bis zur nächsten Parallelstraße zusammengelegt, so dass ein Grundstück mit zwei Innenhöfen und gleichartigen Fassaden zu beiden Straßen entstanden. Der "aalglatten Block" der neuen Medienzentrale Springer erstreckt sich sogar von der Schützen- bis zur Zimmerstraße über ein komplettes Karree.

Krausenhof
Die Krausenstraße erinnert - so wird vermutet - seit 1720 an einen Hauseigentümer Krause. Wird der Krausenhof seine Bezeichnung vom Straßennamen abgeleitet haben? Nein, es ist ein Wortwitz und eine bewusste Doppeldeutigkeit, denn der Bauherr dieses Geschäftsgebäudes, der Fabrikbesitzer H. Brecht, stellte Halskrausen her. Auch die spielerische Verwendung auf dem Fassadenschmuck geht darauf zurück, denn die dort sichtbaren Köpfe tragen Halskrausen.


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Ein Wohngebäude steht dort nicht mehr, 1911 wurde eine Anlage mit zwei Vorderhäusern zur Krausen- und Schützenstraße und zwei Innenhöfen erbaut. Die Straßenfassaden mit seriell eng gesetzten Pfeilern und jeweils zu dritt zusammengefassten Fensterachsen spiegelt die innen frei einteilbaren Flächen ("riesige Säle") nach außen wider. Nach Textilbetrieben wie dem Halskrausenproduzenten waren hier im Zeitungsviertel Nachrichtenagenturen und Anzeigen-Expeditionen Mieter im Krausenhof ansässig, bevor die UfA-Film dort ihre Hauptverwaltung einrichtete.

Von Kaninchenfellen zur Pelzkonfektion
Zwischen Krausen- und Schützenstraße wurde 1909 im übernächsten Straßenkarree ein weiteres über zwei Höfe reichendes Geschäftshaus errichtet, das an jeder Straße sogar zwei Grundstücke miteinander verband. Auch dort sind die Fassaden durch Pfeiler rhythmisiert. Anders als die meisten anderen Geschäftshäuser in diesem Viertel diente der Gebäudekomplex dem eigenen Betrieb des Bauherrn, dem Großbetrieb der Berliner Pelzkonfektion H. Wolff. Heimann Wolff hatte einst begonnen mit dem Handel mit Kaninchenfellen, der Fabrikation von Herrenhüten und Pelzmützen und Muffs und Kragen aus Hasenfell. Muffs sind heute aus der Mode gekommen, es waren Pelzhandschuhe, in die von beiden Seiten die Hände zum Wärmen hereingesteckt wurden ("Schlupfer").

Mit seinen Söhnen machte Wolf in der Krausenstraße aus seinem bescheidenen Unternehmen den "ersten modern geleiteten Großbetrieb in die Berliner Pelzkonfektion", seine Werkstatt galt als "hohe Schule aller Kürschner“, es war das größte Unternehmen der Pelzbranche auf dem europäischen Kontinent. Die Ausstellungsräume wurden beschrieben als "vornehmen Hallen, aus denen man nach oben fuhr zu Lagern mit Pelzen, mit Woll- und Seidenmaterialien, zu den Abteilungen mit Damenmänteln und Herrenmänteln". Die Abteilungen für Pelz- und Lederprodukte waren im Innenhof tätig. Durch die Torbögen an der Krausenstraße "kamen die pferdegezogene Wagen und später Motorwagen herein- und auf der Rückseite in der Schützenstraße herausgefahren".

Großbäckerei Krausenstraße
Die Fassade an der Krausenstraße 9-10 weist auf die dort produzierende Großbäckerei hin: Die Putten auf dem Gebäudefries haben Brezeln und andere Backwaren in den Händen. Auch dieses Gebäude wurde zur Vermietung errichtet: Das Erdgeschoss des Hauses war für Läden vorgesehen, die Obergeschosse für Büros, im Attikageschoss gab es eine hochherrschaftliche Wohnung.


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Zwei Hauptstadtbüros von Hamburger und Münchener Zeitungen arbeiteten hier, man war im Zeitungsviertel. Die Hofgebäude wurden als Gewerberäume genutzt.

Bethlehemskirche
Die 1737 fertiggestellte Kirche auf dem gleichnamigen Platz wurde für böhmische protestantische Glaubensflüchtlinge erbaut, die in Preußen ihre zweite Heimat gefunden haben. Das Gotteshaus ist im Zweiten Weltkrieg durch Bomben schwer beschädigt und zu DDR-Zeiten abgerissen worden. Nach der Wende ist der Grundriss der Kirche im Straßenpflaster durch andersfarbige Steine markiert worden. Eine über dem Grundriss schwebende Stahlskulptur zeichnet in der Luft die Umrisslinien des verschwundenen Baues nach.

Die Situation von Flüchtlingen wird von dem 8 Meter hohen runden "Houseball" bildlich aufgenommen. Das Pop-Art-Kunstwerk neben den Kirchenumrissen stellt einen Hausstand dar, der zu einem Bündel zusammengeschnürt ist. Möbel, Leiter, Waschbrett und andere Haushaltsgegenstände sind darin eingeflochten.

Der Ney Yorker Bildhauer Claes Oldenburg schuf Pop-Up-Kunstwerke, die nicht ins Museum gehören, sondern in die Städte, so dass sie jeder sehen kann. Allein schon die Größe seiner Werke lassen sie nicht zu Museumsstücken werden. Er stellte Gegenstände riesigen Ausmaßes in die Städte, seien es Lippenstift, Eistüte, Schippe, Lichtschalter, Taschenmesser oder Gartenschlauch, und verband so seine Pop-Art-Kunstwerke mit Ereignissen des jeweiligen Ortes.

Französische Luisenstadtkirche
Für die französischen Glaubensflüchtlinge gab es seit 1700 eine Kirche östlich vom späteren Zeitungsviertel in der Kommandantenstraße Ecke Axel-Springer-Straße. 1728 wurde sie durch königlichen Befehl durch einen Neubau ersetzt. Nach Kriegsbeschädigung im Zweiten Weltkrieg wurde auch sie zu DDR-Zeiten abgerissen. Dort befindet sich jetzt ein Parkplatz ohne jeden Hinweis auf das frühere Gotteshaus.

Farbige Neubauten und Palazzi
Das Straßenkarree Schützen-, Charlotten-, Zimmer- und Markgrafenstraße bebaute nach der Wende der Architekt Aldo Rossi mit einem Gebäudeensemble. Neubauten in kräftigen Farben und bestehende Mietshäuser hat er zu einem Gebäudekomplex vereint und um das Abbild eines von Michelangelo geschaffenen Palazzo ergänzt. Starke Farben und ein ikonisches Architekturzitat machen das Ensemble zu einer architektonischen Collage.


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Teppichhaus Alfandary
Das Alfandary-Haus in der Zimmerstraße "ist ein eigenartiger Versuch, mit einem angeklebten Ornament die Bauaufgabe eines Hauses zu lösen, das keinen historischen Formen folgt". Diese Architekturkritik aus der Bauzeit 1914 gilt dem ehemaligen Teppichhaus der Gebrüder Alfandary. Die Fassade des Gebäudes ist vollständig verklinkert. Die Darstellungen des Terrakotta-Frieses in Höhe der zweiten Etage werden als "Allegorien des Wohlstands und des Überflusses" gedeutet.

Ein Teil des Frieses gilt der Darstellung der griechischen Sage von Leda und dem Schwan. Es ist allerdings weder Wohlstand noch Überfluss, sondern schlicht Lüsternheit, die Göttervater Zeus dazu bringt, sich der Leda als Schwan zu nähern und sie zu verführen. Wie man sich das körperlich vorstellen muss, wurde seit der Antike in manchen Darstellungen zu zeigen versucht, im Fries sind beide schlicht nebeneinander abgebildet.


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Spirituosen -- Geistiges in der Zeitungsstadt
In zwei Häusern der Zeitungsstadt wurden Spirituosen ausgeschenkt von Unternehmen, die dort als Fabrikanten alkoholischer Getränke ihren Sitz hatten. Es waren der Spirituosenfabrikant J. A. Gilka in der Schützenstraße 12 und die Likörfabrik und Weinhandlung Julius Kahlbaum in der Mauerstraße 85.

Kahlbaum hatte 1818 seinen Betrieb gegründet, produzierte in Adlershof und später in Hohenschönhausen. Erst 1937 eröffnete er das Geschäft in der Mauerstraße in einem Gebäude, das wegen seiner Fassadenbemalung außergewöhnlich ist. Die Fassade wurde flächig mit einem Muster bemalt, das einem Tapetenmuster ähnelt. Wahrscheinlich hat ein Malermeister, der 1875 Hausbesitzer war, die Bemalung selbst vorgenommen.


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Der andere Spirituosenfabrikant war J. A. Gilka. "Gilka Kümmel" gibt es heute noch, er wird von Underberg produziert. Joseph Aloys Gilka, der "eine vorteilhafte Ehe geschlossen", also reich geheiratet hatte, gründete 1836 seine Destillations-, Rum- und Spritfabrik in der Schützenstraße 9. Eine Zeit lang produzierte er in Düppel. 1886 erbaute er das Haus Schützenstraße 12.

Beim Flaniermahl zum Abschluss kamen wir ohne Likör und Kümmel aus. Wie seit mehreren Jahren üblich suchten wir uns ein Café und wurden beim "Hashtag" in der Krausenstraße hinter dem Dönhoffplatz fündig.
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Diese Stadtspaziergänge schließen hieran an:
Jerusalemer Straße: Eine Straße wird zerstückelt
Bethlehemskirche, Mauerstraße: Aufstieg und Fall (in) der Wilhelmstraße
Markthalle Zimmerstraße: Kathedralen der Berliner Architektur um 1900
Mosse-Haus, Zeitungsviertel: Kein Spital an keinem Platz
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Unsere Route:
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Wenn ein Finanzminister Plus und Minus verwechselt