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Europa-Stadt in der Wüste


Stadtteil: Tiergarten
Bereich: Europa-City
Stadtplanaufruf: Berlin, Heidestraße
Datum: 15. April 2013
Bericht-Nr.: 416

"Im Zentrum Berlins entsteht ein neues Stadtquartier in Bezug zur europäischen Stadt und in der Weiterentwicklung des identitätsstiftenden städtebaulich-architektonischen Erscheinungsbildes von Berlin. Die Lebendigkeit im Quartier wird durch eine Mischung von Arbeiten und Wohnen, von Einkaufen, Kultur und Freizeit entstehen. Kunst ist für den Standort ein besonderer identitätsstiftender Faktor". - Das ist Stadtplaner-Prosa. Die Wiese ist grün, die Schmetterlinge fliegen, attraktive Stadtmenschen lassen ihre Beine über dem Schifffahrtskanal baumeln und schlürfen ihren Latte Macchiato, Investoren verlangen von Architekten phantasievolle Neubauten. Und wie sieht es wirklich (noch) aus in der Heidestraße? "Endstation Wüste" sei der Hauptbahnhof südlich der Heidestraße, befindet das Mietermagazin. Und wenn es dann losgeht mit dem Bauen "bebt die Wüste", schreibt der Tagesspiegel. Für dieses "zentrale Zukunftsgebiet der Stadt" wurde 2009 ein Entwicklungskonzept (Masterplan) erstellt, aber das Beben in der Wüste blieb bisher aus, man hörte nur ein bisschen Getrappel.

Heidestraße
Für uns ein Anlass, die Heidestraße zum Flanierziel zu machen, bevor wir sie nicht mehr wieder erkennen. Hoffentlich irgendwann einmal nicht wieder erkennen, und dann mit "aha" und "whow" und nicht mit „oje“ wegen der Mutlosigkeit der Akteure. Es fällt auf, dass durchgängig über 'das Gebiet' oder 'das Umfeld' der Heidestraße geschrieben wird, nicht über 'die' Heidestraße. Die Heidestraße selbst wird nur als Funktion zur Raumüberwindung wahrgenommen, nicht aber als Ort mit eigenem Charakter wie andere Straßen, beispielsweise die Invalidenstraße oder Ackerstraße in der Nähe. Sie hat keine Aufenthaltsqualität und keine Geschichte, sie ist keine Gasse, kein Weg, keine Allee, kein Damm, keine Chaussee. Sie ist nicht Jagdweg, Reitweg, Paradestraße, Aufmarschstraße oder Heerstraße, keine Renommierstraße, kein Boulevard, auch keine Fußgängerzone oder Spielstraße.

Als 1822 der Feldweg zwischen Invaliden- und Perleberger Straße ausgebaut und als Heidestraße benannt wurde, da lag er vor den Toren der Stadt. Erst ein Vierteljahrhundert später wurde hier Infrastruktur geschaffen (1), bis dahin lag die Heidestraße wirklich mitten in der unfruchtbaren Heide, die nur durch einige verstreute Gehöfte unterbrochen wurde. Mit der Infrastruktur wuchsen die 'angrenzenden Orte' Moabit und Wedding zu dicht besiedelten Stadtteilen heran. Die Heidestraße lag 'in der Nähe' des politischen Zentrums der Stadt, später sogar auf der Nord-Süd-Achse von Speers "Germania"-Planungen. Mit der Teilung Berlins an die Grenze zu Ost-Berlin gedrängt, gab es längs der Heidestraße auf der einen Seite einen Güterbahnhof, später einen Containerbahnhof und auf der anderen Seite die endlosen Laderampen von Speditionen. Nach der Wende wurde der Containerbahnhof bald durch Güterverkehrszentren am Stadtrand überflüssig. Zweimal erfolgte eine Zwischennutzung des Geländes durch das Deutsch-Amerikanische Volksfest, aber auch das ist inzwischen weiter gewandert.

Total-Turm
An den Speditions-Laderampen knabbert gerade der Abrissbagger, der ehemalige Containerbahnhof liegt als endlose Betonfläche in der Landschaft. Vor dem Europaplatz am Hauptbahnhof (heißt das Gebiet deshalb "Europacity"?) hat sich 2012 der weltweit viertgrößte Ölmulti Total in einem für ihn errichteten Büroturm ("Tour Total") eingemietet. Das Hochhaus mit 69 Metern hat eine Rasterfassade, die vielfältiger ist, als der Blick von weitem vermuten lässt. Die Längsseite des Gebäudes ist leicht geknickt, vertikale Elemente in Form eines K und eines T geben der Fassade eine unregelmäßige plastische Struktur (2). Zwei Hotels entstehen gerade zwischen diesem Büroturm und dem Hauptbahnhof, wir sehen nur das Bauschild und die Baugrube. An der Westseite der Heidestraße sind vereinzelt Altbauten stehen geblieben.

Galerien
Hier haben sich unter anderem Galerien angesiedelt, die angezogen werden einerseits durch die Nähe die im Hamburger Bahnhof ausgestellte Gegenwartskunst und andererseits durch niedrige Mieten in dieser unwirtlichen Umgebung. Ein Hamburger mit türkischen Wurzeln hat hier schon mehrfach ausgestellt in der Galerie Tanas (türkisch "Kunst"). Sakir Gökçebag macht aus Alltagsgegenständen Skulpturen und Installationen, die die Objekte aus dem gewohnten Zusammenhang herausnehmen, sie spielerisch ironisieren und zu neuen Bedeutungen zusammenfügen. Angesichts der zweckentfremdeten Regenschirme, Kleiderbügel, Schuhe, Teppiche usw. möchte ich einmal Mäuschen sein in seinem Familienhaushalt, der wohl gleichzeitig Atelier und Werkzeugkasten ist.

Kornversuchsspeicher
Am oberen Ende der Heidestraße steht am Spandauer Schifffahrtskanal ein ungenutzter Backsteinbau, der kurz vor 1900 als Kornversuchsspeicher errichtet wurde. Der industrielle Speicherbau in den USA hat nicht nur Walter Gropius als architektonisches Phänomen interessiert und begeistert, die Methoden der Getreidelagerung waren bei uns auch für die industrielle Lebensmittelversorgung von großem Interesse. Deswegen wollte man in dem Kornhaus an der Heidestraße – direkt am Kanal gelegen - auf fünf Schüttböden und mit vier Silos herausfinden, ob die Speicherung im Silo oder auf flachen Böden vorteilhafter ist. Optimiert wurde dann hier die Lagerung auf flachen Böden mit Unterteilungen durch Bretterwände, so dass unterschiedliche Getreideposten getrennt aufbewahrt werden konnten.

Graffiti
Im Juli 2005 waren wir schon einmal an der Heidestraße, damals stand der Containerbahnhof noch. Das "Blaue Haus" an der Perleberger Brücke konnten wir seinerzeit ausgiebig studieren, weil ein Gewitter uns den weiteren Weg abgeschnitten hatte. Es steht noch, ist aber nicht attraktiver geworden. Etwas anderes hat diesmal unsere Aufmerksamkeit auf sich gezogen: Die gelbe Sternschnuppe - ein Stern mit einem Schweif - als Graffiti an einem Betonpfeiler der ICE-Brücke hoch oben über uns. Auch diese Graffitis waren schon vor acht Jahren dort, wie die alten Bilder zeigen. An schier unerreichbaren Stellen finden sie sich meist an Bahnanlagen. Kripoe heißt der Sprayer, der außerdem gelbe geballte Fäuste und Rollschuhe „bombt“, alles immer gleichbleibend, inhaltlich nicht variiert, auf Masse angelegt, nicht auf Qualität. In den einschlägigen Internetforen prallen die Meinungen aufeinander: - cool; - lebensmüde Waghalsigkeit; - einfach zu schlicht; - die S-Bahnfahrt wird dadurch zum Vergnügen; - Kripoe hat wie Hund sein Revier markiert. Die Fäuste - so rätselt einer - könnten eine politische Komponente haben (wie Black Power), ein anderer denkt sich einen anti-kapitalistischen Kontext ganz automatisch dazu. Auch in einer Masterarbeit über Streetart wird Kripoe gewürdigt. Man sieht, wir leben in einer pluralistischen Gesellschaft.

Setzen Sie den Spaziergang hier fort: An den Fassaden sollt ihr sie erkennen

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(1) Infrastrukturentwicklung an der Heidestraße: 1848 begann der Bau des Berlin-Spandauer Schiffahrtskanals und des Humboldthafens, 1856 des Nordhafens, 1846 der Bau des Hamburger Bahnhofs, 1868 des Lehrter Bahnhofs. Die Kabinettsorder zum Bau des Zellengefängnisses ist von 1842, weiterhin entstand hier ein Exerzierplatz.

(2) Von den 'Barkow Leibinger Architekten' des Tour Total wurde auch das Haus für den Aufbau-Verlag am Moritzplatz entworfen: Erste Kreuzberger Wohngemeinschaft



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