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Lass mich vereinsamt weinen gehn


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Vor dem Halleschen Tor
Stadtplanaufruf: Berlin, Brachvogelstraße
Datum: 2. November 2015
Bericht Nr: 526

Eines der ungewöhnlichsten Grabdenkmale Berlins steht auf dem Jerusalems-Friedhof vor dem Halleschen Tor. Eine Frauenfigur - Trauernde oder weiblicher Genius - drückt an der Ädikula (dem "kleinen Tempelchen") eine Tür in das Jenseits auf, das jedoch unserem Blick verborgen bleibt. In einer Hand trägt sie einen Kranz aus Trockenblumen (Immortellen, Symbol der Unsterblichkeit), in der anderen einen Palmenzweig, der für Auferstehung steht. An der Grenze zum Transzendentalen hatte sich der hier bestattete Mathematikprofessor Julius Worpitzky auch in seinem beruflichen Leben bewegt. Bereits seine Dissertation gab das Thema vor: Endlichkeit und Unendlichkeit mathematischer Reihen.

Noch zwei Besonderheiten verbinden sich mit diesem Grabdenkmal: Es trägt keinen Namen, und es wurde von seiner geschiedenen Frau gestiftet. Steht das außergewöhnliche Kunstwerk für die übergroße Liebe dieser Frau zu ihrem Mann über Scheidung und Tod hinaus? Und warum hat sie ihm den Namen verweigert? Stimmt vielleicht die Anekdote, die dem Mathematikprofessor nicht nur eine Begeisterung für das Transzendentale, sondern auch die Hingabe an die diesseitige Verlockung weiblicher Reize nachsagt, weshalb die Ehe scheiterte und er aus Rache im Tode namenlos wurde? Hübsch ausgedacht, aber unzutreffend. Die vorhandenen Namens-Inschriften waren bis zur Restaurierung verblichen, das Einfassungsgitter mit einem Monogramm ist verloren gegangen, schreibt das Landesdenkmalamt.

Neben dem Jüdischen Friedhof in Weißensee haben die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor die höchste Prominentendichte aller Berliner Friedhöfe. Spätestens durch den Zweiten Weltkrieg wurde dieser Trend durchbrochen. Verdiente DDR-Genossen hat man auf dem Sozialistenfriedhof Friedrichsfelde beerdigt, West-Berliner Prominente auf den Waldfriedhöfen Zehlendorf und Dahlem. Erst nach der Wende ist der Dorotheenstädtische Friedhof zur ersten Wahl für die Bestattung von bekannten Persönlichkeiten geworden.

Eine Wanderung über die Friedhöfe vor dem Halleschen Tor ist ein Ausflug in die Kulturgeschichte unserer Stadt; Namen, Bauwerke und Symbole geben Anlass zum Nachsinnen und Nachforschen. Mehrfach findet man eine Schlange dargestellt, die sich in den Schwanz beißt - die Weltschlange als Symbol der Ewigkeit und der ewigen Wiederkehr.


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Mohnkapseln auf Einfassungsgittern verweisen auf den Schlaf und den Tod. Frauenfiguren als Trauernde und als weiblicher Genius trösten die Hinterbliebenen und begleiten die Toten. Ein Sänger wird gepriesen: "An der Gluth des Gesang's entflammten des Hörers Gefühle". An anderer Stelle überwiegt der Abschiedschmerz: "Mich aber laß vereinsamt weinen gehn. Auf Wiedersehen!"

Auf einem der Friedhöfe vor dem Halleschen Tor ist der "Prinz vom Hinterhof" beerdigt, der abgedankte "Kaiserliche Prinz und Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich, Königliche Prinz von Ungarn und Böhmen, Großherzog von Toscana und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies". Er war mit dem hochherrschaftlichen Leben nicht zurecht gekommen, hatte Heimat und seine Prinzessinnen-Gattin verlassen und war schließlich in Berlin unter dem Namen Leopold Wölfling als Feuilletonist sesshaft geworden. Mit seiner 34 Jahre jüngeren letzten Frau Klara, der Tochter eines Eisenbahners, lebte er in einem Hinterhaus am Mehringdamm in einer kleinen, dunklen Wohnung mit Ausblick auf ein schäbiges Fabrikgebäude. Sein eisernes Grabkreuz ist dann doch noch seinem früheren Stande gemäß mit viel Gold verziert und mit einem goldenen Christus geschmückt.

Es ist eher selten, dass ein Firmenlogo auf einem Grabstein landet. Die Edeka hat es geschafft, ihrem "schaffensfrohen" Genossenschaftsdirektor Schwaiger die Firmenmarke für die Ewigkeit mitzugeben, der Werbeeffekt für die Lebenden ergibt sich von ganz allein. Produktplacement gibt es also schon länger.


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Auf dem Friedhof befinden sich 28 Gräber der Familie Mendelssohn, ihnen ist eine Dauerausstellung in der alten Friedhofskapelle gewidmet. Anstelle einer Aufzählung vieler weiterer Gräber und Grabmonumente will ich hier auf die "Salonnière" Rahel Varnhagen hinweisen, in deren berühmtem literarischen Salon sich Dichter, Naturforscher, Politiker, Gesellschaftsgrößen und Aristokraten trafen. Sie hatte in ihrem Testament angeordnet, dass ihr Sarg einen Glasdeckel haben, nicht verschlossen und auch nicht in die Erde eingegraben werden sollte - sie fürchtete den Scheintod. Ihr vierzehn Jahre jüngerer Mann ließ sie in einem Gewölbe beisetzen. Erst nach mehr als dreißig Jahren bettete man sie und ihren Mann in ein Doppelgrab mit marmornen Kissensteinen um. Über dem Gewölbe entstand später die Friedhofskapelle.

Zu den Friedhöfen vor dem Halleschen Tor gehört der Gottesacker der Böhmischen Brüdergemeine ("Gemeine" ohne "d"). Das Eingangsportal steht heute verloren kurz vor der Umfassungsmauer aus Beton-Fertigsteinen und scheint in die falsche Richtung zu deuten. Der vor dem Tor liegende Teil des Friedhofs ist 1971 weitgehend abgetragen worden, als südlich der neu gebauten Amerika-Gedenkbibliothek eine Entlastungsstraße angelegt wurde. Man hätte die Straße auch anders verlaufen lassen können, aber so blieben Hertie und Handwerkskammer unbehelligt, dafür mussten die Gräber eingeebnet werden.


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Eigentlich sollte der gesamte Friedhofskomplex "einer durch Grünflächen aufgelockerten Bebauung weichen", nur heftige öffentliche Kritik an der rigorosen Baupolitik konnte das verhindern. Fast 1.200 Gräber wurden hier beseitigt, als Erinnerung an den Frevel steht noch heute die unwürdige Mauer aus industriellen Betonfertigsteinen.

Die Straße Am Johannistisch ist mit knapp 90 Metern sehr kurz und noch dazu eine Sackgasse. Sie hat nur zwei Hausnummern und kein Straßenschild. Das schien dem Bezirksamt wohl nicht so wichtig zu sein bei einer Straße, die nur wie eine Grundstückseinfahrt wirkt. Doch ihrer Bedeutung in der Stadtgeschichte wird das nicht gerecht. Obwohl man sich zwischen Blücherstraße und Landwehrkanal fest auf Kreuzberger Boden wähnt, ist es historisches Tempelhofer Gebiet. Die umliegenden Johanniter- und Tempelritterstraßen verweisen auf die Gründung Tempelhofs durch einen Kreuzritterorden, die Templer, später gefolgt von den Johannitern. Tempelhof erstreckte sich ursprünglich bis an den Landwehrkanal. Dieser nördliche Teil zwischen Flughafen und Landwehrkanal ist dann bereits 1861 durch Eingemeindung als "Tempelhofer Vorstadt" ein eigener Stadtteil Berlins geworden. Erst seit knapp einhundert Jahren ist hier Kreuzberger Gebiet, als nämlich bei der Gründung Groß-Berlins die Tempelhofer Vorstadt Teil des neuen Bezirks Kreuzberg wurde. Der namensgebende Kreuzberg selbst hieß lange Jahre Tempelhofer Berg, er wurde 1821 nach Errichtung des Nationaldenkmals umbenannt.

Die Johanniter versorgten ihre Feldarbeiter vor dem Halleschen Stadttor an einer langen Tafel, darauf geht der Name Johannistisch zurück. Auf diesem Gelände gründete Christoph Späth 1720 die Baumschule Späth, die später nach Baumschulenweg umzog. Christoph Späth stieg zum "Kunstgärtner" und "vollberechtigten Berliner Bürger" auf, nachdem König Friedrich Wilhelm I. Gefallen an einer Mohrrübe fand, die Majestät "eigenhändig" aus dem Ackerland gezogen und verzehrt hatte.

Nach Wegzug der Baumschule wurde das Gelände als königlicher Holzplatz genutzt. Der Floßgraben, auf dem man das Holz transportierte, ist um 1850 zum Landwehrkanal ausgebaut worden. Zu diesem Zeitpunkt erhielt auch die Straße (Am) Johannistisch ihren Namen. Im Jahre 1877 wurde hier die Berliner Stadtmission gegründet, die sich im Rahmen der Kirche dem Dienst am Menschen widmet. Es war die Zeit des Elends der Fabrikarbeiter, als der Staat die Sozialfürsorge noch nicht als seine Aufgabe ansah. Eine Saalkirche wurde hier gebaut, ein wuchtiger Backsteinbau, der verschiedene Nutzungen zuließ. Gegen Ende des Zweiten Weltkriegs zerstörten Bomben die Kirche und sämtliche Gebäude, die sich inzwischen hier angesiedelt hatten.

Vom Johannistisch wie von den Friedhöfen hat man einen guten Blick auf die Heilig-Kreuz-Kirche am Blücherplatz, die kurze Zeit vor der Stadtmissionskirche von Johannes Otzen errichtet wurde. Wie bei vielen evangelischen Kirchenbauten jener Zeit hatte Kaiserin Auguste Viktoria (von den Berliner respektlos "Kirchenjuste" genannt) den Bau gefördert und hier sogar den Altar gespendet. Auch diese Kirche wurde durch Bombardierung im Zweiten Weltkrieg zerstört. Nach dem vereinfachten Wiederaufbau ist weitsichtig bei einer umfassenden Sanierung die Möglichkeit für eine weltliche Nutzung neben der kirchlichen geschaffen worden. Mit nachlassendem Kirchenbesuch hatte die Kirche schon vor 140 Jahren Probleme. Durch das Zivilstandsgesetz von 1874 wurden Kirche und Staat entflochten ("Kulturkampf"), die Zivilehe löste die verpflichtende kirchliche Ehe ab. Das führte zu einem drastischen Rückgang der kirchlichen Eheschließungen, nur noch zwanzig Prozent der Ehepaare heirateten kirchlich, nur jedes zweite Kind wurde getauft. Das war ein Grund, weshalb sich die Stadt'mission' zu den Menschen aufmachte, um sie zu erreichen, ihnen zu helfen, sie zu versorgen, aber auch zu missionieren.

Vor der Heilig-Kreuz-Kirche ist ein Weg zu öffentlichem Straßenland geworden, jetzt muss ein Straßenname her. Die "Frauenquote" bei neuen Straßennamen - nur noch Frauen werden geehrt, bis sie 50 Prozent erreicht haben - wird mit einer Starre durchgesetzt, die nicht einmal vor dem Jüdischen Museum eine Straßenbenennung nach Moses Mendelssohn erlaubt. Doch es gibt noch eine Steigerung: in der Bezirksverordnetenversammlung wurde ein Antrag angenommen, es müsse eine lesbische Frau sein, nach der eine von zwei neuen Straßen benannt wird. Sollte jetzt auch noch die sexuelle Orientierung das Kriterium für eine Ehrung sein? Müsste man irgendwann durchzählen, wie es die in Berlin bereits geehrten Menschen mit der Liebe zu Männern und Frauen hielten? Was, wenn sie beides mochten, wo würden sie dann gezählt?

Eine Stärkung ist angesagt. Das "Z" in der Friesenstraße hat nicht nur eine gute Küche, sondern auch für den kleineren Hunger spezielle Angebote in der Karte, beispielsweise den kleinen Bruder des normalgroßen Souvlaki. Und wenn dann noch Retzina im schlichten Glas auf den Tisch kommt, kann der Geist von kuriosen Straßenbenennungen zur griechischen Taverne entfliehen.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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