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Ein Postzustellbezirk vermittelt Lebensgefühl


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Wrangelkiez (Schlesisches Viertel)
Stadtplanaufruf: Berlin, Cuvrystraße
Datum: 7. Dezember 2015
Bericht Nr: 530

Für die drangvolle Enge in den Berliner Mietskasernen während der Industrialisierung wird oft der Bebauungsplan von James Hobrechtverantwortlich gemacht. In dem groben Raster von Hobrecht gab es große Baublöcke mit tiefen Grundstücken. Er hatte Gärten in der Tiefe der Grundstücke mitgedacht, die Baupolizei achte aber nur auf die Mindestmaße von Höfen (5,34 × 5,34 Meter zum Drehen der Feuerwehrspritze) und ließ die Bebauung bis in den hintersten Winkel zu. Mit mehreren Hinterhöfen, eingerahmt von Quergebäuden und Seitenflügeln und mit Keller- und Dachwohnungen wurde die tatsächliche Wohnfläche extrem verdichtet. Und selbst diese ungünstig geschnittenen, schlecht ausgestatteten, dunklen und oft feuchten Wohnungen waren überbelegt, die Küchen waren bewohnt, Betten wurden an Schlafgänger vermietet.

Hobrecht hatte zwischen Friedrichshain und Neukölln eine Nord-Süd-Achse vorgesehen, die von der Warschauer Straße bis zur Pannierstraße reichte und im Kreuzberger Wrangelkiez durch die Falckensteinstraße führte. Am Görlitzer Bahnhof kamen die Züge aus der Lausitz und aus Schlesien an. Von dort und aus Polen strömte arme Landbevölkerung herein, die Arbeit suchte und dringend Wohnraum benötigte. Wer hier nicht unterkam, zog weiter zur "Republik Barackia", einer primitiv selbst gezimmerten Barackenkolonie am Kottbusser Tor.

Hier im Wrangelkiez verwirklichte der Bauspekulant Paul Haberkern eine ganz eigene Idee von "verdichtetem Bauen". Im Straßenkarree zwischen Lübbbener und Oppelner Straße legte Haberkorn - ohne vorher eine Genehmigung einzuholen - eine einspurige Privatstraße an, die heutige Sorauer Straße, und schob von beiden Seiten die Bebauung eng an die Parallelstraßen heran mit jeweils nur einem Innenhof dazwischen. Dadurch gewann er mehr Vorderhäuser mit hochwertigem, teurer zu vermietenden Wohnraum. Hinter den historisierenden Stuckfassaden lagen im Hochparterre und ersten Stockwerk die besseren Wohnungen für Kaufleute, Handwerker und Beamte, in den Etagen darüber waren es Ein-Zimmer-Wohnungen. In den Hinterhäusern gab es nur - überbelegte - Kleinstwohnungen, deren Toiletten und Wasserpumpe befanden sich auf dem Hinterhof.

Wer arbeitslos oder krank wurde und die Miete nicht mehr bezahlen konnte, wurde an den "Ziehtagen" (1.April und 1.Oktober) auf die Straße gesetzt. Man kann sich die Straßen an diesen Tagen so vorstellen wie bei der ersten West-Berliner Sperrmüllaktion, als sie zu beiden Seiten mit Möbeln vollgestellt waren. Die Räumungen gingen nicht immer friedlich vor sich. Polizisten wurden mit Steinen beworfen, Barrikaden gegen die berittenen Ordnungshüter und Dragoner errichtet. Der Kampf um Wohnungen und Häuser verlief damals manchmal so ähnlich wie bei den späteren Hausbesetzungen.

Paul Haberkern war von der Herkunft ein Handschuhfabrikant, der reich geheiratet hatte und das Vermögen durch seine Bauspekulationen vermehrte. Die Bauten brachte er später in die Rheinische Baugesellschaft - eine Terraingesellschaft - ein und setzte dort seine Tätigkeit fort. Zu seinem Vermögen gehörte auch die Insel Valentinswerder im Tegeler See, die heute noch Privateigentum seines Urenkels ist. Auch an der Littenstraße in Mitte an der alten Stadtmauer gehörte Haberkerns Familie eine Reihe von Grundstücken. Um eines dieser Grundstücke wird noch gestritten. Der Senat hat es bereits veräußert, weil die DDR "nur vergessen" hatte, es zu enteignen, Haberkorn steht aber noch im Grundbuch.

In der "Cöllnischen Vorstadt" vor der Berliner Stadtmauer (Akzisemauer) siedelte sich 1648 die Bartholdische Meierei auf der Fläche zwischen Spree und Landwehrkanal an, begrenzt vom Lohmühlengraben und der Falckensteinstraße. Dieses Gelände erwarb 1825 Heinrich Andreas de Cuvry, der Chef der Armenfürsorge des Berliner Magistrats und baute in der Schlesischen Straße sein „Herrenhaus“, umgeben von dem Cuvryschen Garten, der sich bis zur Spree erstreckte. In den Gewerbehöfen und Industriehäusern an der Schlesischen Straße 26-30 und 38 bekommt man heute noch einen Eindruck, wie tief die Grundstücke mit mehreren umbauten Innenhöfen an die Spree heranreichen. Einen Teil seines Grundbesitzes verkaufte Cuvry, so stand der nicht mehr vorhandene Görlitzer Bahnhof auf ehemals Cuvryschem Gelände, ebenso ein Messingwalzwerk, eine Zuckersiederei und eine Gastwirtschaft.

Am anderen Ende des Wrangelkiezes erhebt sich eine Kaserne, die wie eine Festung wirkt, ein Backsteinbau mit achteckigen Doppeltürmen, Wandpfeilern, Rundbogenfenstern und Terrakottaschmuck. Für das Dritte Garderegiment zu Fuß ist diese Kaserne kurz nach dem Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 gebaut worden. Die üppige Ausstattung des Baus darf als Ehrung des Regiments für seine Rolle im siegreichen Feldzug gegen die Franzosen verstanden werden.


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Apropos Kasernen: Hat Friedrich der Große die "Schlafburschen" erfunden, die später als Industrieproletariat die drangvolle Enge in den Arbeiterwohnungen vergrößerten? Den verheirateten ("beweibten") Soldaten in seinen Kasernen erlegte er auf, ledige Soldaten als Schlafburschen in der Kammer aufzunehmen, während sie selbst mit ihrer Frau die Stube bewohnten. Das war wirtschaftlich sinnvoll, erschwerte das Desertieren und stellte die Unverheirateten unter eine gewisse Aufsicht.

Ein anderer langgestreckter Backsteinbau steht der Kaserne an der Skalitzer Straße schräg gegenüber. Es ist das Postamt SO 36, eines der ehemals neun nach Himmelsrichtungen benannten Hauptpostämter Berlins und Namensgeber für diesen Teil Kreuzbergs. Wer von SO 36 spricht, meint mehr als eine Ortslage, es ist ein Begriff mit stadtsoziologischer und politischer Aufladung geworden, für manchen drückt es über eine Ortsbezeichnung hinaus ein Lebensgefühl aus.


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Heute ist in dem Postgebäude immer noch eine Poststelle zu finden, aber die braucht nicht mehr viel Platz. Das Schulungszentrum für Postzusteller ist ausgezogen, die Briefträger müssen woanders lernen (hoffentlich werden sie noch geschult). Hier sind jetzt das Atelierhaus "The Wye" beheimatet mit Ateliers, „Co-Working Spaces“, Veranstaltungssaal, Galerielounge und der PrivatClub, eine "verlässliche Institution in Sachen Pop-Art".

In der Nachkriegszeit lag der Wrangelkiez am äußersten Rand West-Berlins, angrenzend an die Ost-Berliner Ortsteile Friedrichshain und Treptow. Trotzdem wurde eine Stadtautobahn geplant, die über den Görlitzer Bahnhof zum Oranienplatz führen sollte, denn der Anschluss Ost-Berlins wurde in die West-Berliner Schnellstraßenplanung hineingedacht. Wegen der geplanten Stadtautobahn machte man den Wrangelkiez zum „Sanierungs- Erwartungsgebiet“, der Abriss drohte ("Kahlschlag-Sanierung"), Hauseigentümer schoben Reparaturen und Renovierungen auf, die Häuser verfielen, viele Bewohner zogen weg. Ab 1964 übernahmen türkische Gastarbeiter die Wohnungen wegen der niedrigen Mieten, auch Künstler und Studenten fanden hier billigen Wohn- und Arbeitsraum.

Dann geriet der geplante Häuserabriss in die Kritik, einzelne Gebäude wurden von Hausbesetzern "instandbesetzt", Ende 1980 waren es 17 Häuser. Die Hausbesetzungen führten schließlich zu einem Umdenken, mit den "Strategien für Kreuzberg" im Rahmen der Internationalen Bauausstellung (IBA 1984/87) sollte die Neubelebung des Kiezes eingeleitet werden. Eine der Initiativen war der Verein "Alternative Altbau", der aus Senatsmitteln ein Haus in der Oppelner Straße kaufte und nach Renovierung die Wohnungen den überwiegend türkischen Bewohnern zum Mietkauf anbot. Wer einmal in einer solchen Gruppe mit Stadtplanern, Soziologen, Sozialarbeitern, Betriebswirten zusammengearbeitet hat, weiß, wie zähflüssig und kleinteilig solche Prozesse verlaufen.

Nach der Wende wurde im Rahmen eines Quartiersmanagements im Wrangelkiez 16 Jahre lang die Nachbarschaft gestärkt, der soziale Zusammenhalt verbessert. Seit der Jahrtausendwende steht SO 36 in allen Stadtführern als Touristenziel, die Infrastruktur passt sich an die veränderte Nachfrage an, was durchaus kritisch gesehen wird. Immobilienfirmen und Hausverwaltungen investieren, Luxuswohnungen gibt es hier trotzdem kaum, aber die Mieten steigen.

Zwei Kirchen und eine Moschee findet man im Wrangelkiez. Die an der Baufluchtlinie ausgerichtete St.-Marien-Liebfrauen-Kirche in der Wrangelstraße zeigt erst ihre machtvollen Doppeltürme, wenn man von der Straße in den Vorplatz einbiegt. Vorbild war das mittelalterliche Kloster Maria Laach in der Eifel.


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Auf die evangelische Taborkirche geht die Wrangelstraße als Sichtachse zu. Der gotisch inspirierte Backsteinbau wurde 1905 in Anwesenheit des Kaiserpaares eingeweiht. Man kann davon ausgehen, dass die "Kirchenjuste" (Kaiserin Auguste Viktoria) hier als Förderin tätig war. In Sichtweite der St.Marien-Kirche steht die Fatih-Moschee in der Falckensteinstraße.

Die Schlesische Straße und das May-Ayim-Ufer haben sich 1987 durch einen Skulpturenweg in eine "Menschenlandschaft" verwandelt. Hier wurden die Werke von sieben Bildhauern installiert, an denen wir unseren Rundgang von der Hochbahn am Görlitzer Bahnhof zur Hochbahn am Schlesischen Tor beenden. Noch ein Stück die Wrangelstraße hinauf finden wir für unser Flaniermahl in der Markthalle an der Pücklerstraße das richtige Lokal für Käsespätzle und Bier bzw. Wein. Als wir eintreten, sind wir fast die einzigen Gäste, schon eine halbe Stunde später ist kein Platz mehr frei, der Saal brummt.

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> Im Juli 2006 waren wir schon einmal in diesem Quartier unterwegs: Am Wasser
> Und dieser Rundgang endete im August 2011 an der Cuvrystraße: Kanaldeckel und Schlangengraben

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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