Themen
  Straßenverzeichnis     Bezirke     Personen     Aktuell     Forum  
mehr als Flanieren
Flanieren
Architektur/Stadtentwicklung
Geschichte
Infrastruktur
Kunst
Events
Allgemein:
Startseite
Ich bin NEU hier
Hinweise
Kontakt
Impressum
Datenschutz
Links
SUCHEN
Sitemap

Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin


Ahnengalerie der Flaneure: Alfred Kerr
-----------------------------------------------

Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? Unter diesem Titel wurde ein Teil der "Berliner Briefe" veröffentlicht, die der Theaterkritiker Alfred Kerr um 1900 als Zeitungskolumnen veröffentlicht hat. Er war ein "europäischer Flaneur" (Untertitel), denn er hat auch anderen Städten in die Seele geschaut. Das Flanieren begeisterte ihn: "Die meisten Menschen werden gezwungen, den Zweck ihres Lebens zu verfehlen. Der schönste Zweck des Lebens wäre doch, spazierenzugehen". Die Weltstadt Berlin sah er mit kritischem und spöttischem Auge. Er beobachtete "die eingeborenen Berliner", die im "gleichmäßig hastenden Alltagsverkehr" meist den Blick nach unten haben, weil sie den Augenmuskeln die Kraftvergeudung des Aufblickens ersparen wollen.

Der Frühling konnte "selbst in der Pankestadt eine Art Vegetation zustande bringen", dann mischten sich Natur und Zivilisation, "der Himmel, die Luft, die Bäume und der besondere Geruch des Asphalts, die Toiletten und die ins Freie gestellten Tische der Restaurants und Cafés". jeder bessergestellte Mensch gehe jetzt gern irgendwo spazieren: "Wer im Osten wohnt, wandelt entzückt durch den Friedrichshain, wo es bei sonniger Tageszeit nur selten Messerstiche und Keile gibt". Im heißen Sommer fand er Berlin "grauenhaft. Man atmet während des Tages keine Luft, sondern lauwarmen Unrat. Die Atmosphäre läßt sich schneiden. Darum fliehen während des Tages viele Menschen auf die Gewässer in der Nähe. Sie rudern und ertrinken dabei zuweilen. Aber vorher haben sie wenigstens noch einmal Luft geschnappt".

Indigniert beobachtete er, wie der Berliner am Landwehrkanal am Zoo venezianische Atmosphäre zu verbreiten versuchte, an jenem Berliner "Canale grande von fünfzig Zentimeter Tiefe, auf dessen Oberfläche Berliner Stullenpapier und Zigarrenstummel schwimmen". Dudelsäcke, Mandolinen, Geigen und der Großstadtlärm komprimierten sich zu dem "albernen, rohen Riesenradau, ohne den es in der ersten Stadt unseres Vaterlandes nicht abgeht". Georg Grosz hat sie später 1926 gemalt, die "Stützen der Gesellschaft", von denen Kerr schreibt: "Und über allem liegt der weißgraue märkische Himmel mit seinem unangenehm grellen Licht, und dicke, schwere sonntägliche Spießbürger mit geröteten Weißbiergesichtern und aufgedonnerten schweren Gattinnen stapfen über die Brücken und durch den reichlichen Sand, und holde Stimmen rufen" 'Aujust, sieh dir vor!' ".

Auch in den Kreisen der Gesellschaft, in denen Herr Kerr sich bewegt, weiß man zu feiern. In "Couverts von angenehmen Äußeren" erhält er Einladungen zu privaten Festivitäten. "Zwei Einladungen schreibt man ab, die dritte nimmt man an; man geht hin, tanzt sich kaputt, unterhält sich kaputt, verliebt sich kaputt und macht sich kaputt. Man lebt und webt in Frack und Lack und Claque". Man tanzt Gavotte und Bandour oder rast bei Galopptourentänzen durch das Heim des Gastgebers, tritt der Hausfrau fröhlich auf die Füße, reißt im Vorbeitanzen einige Kelchgläser herunter. Und es gibt Einladungen mit unerträglich langen Programmnummern wie dem Vortragen von Arien, Gedichten und epischer Dichtung, "während wir uns vor Hunger krümmten".

Kerr sieht nicht nur die "Volksseele, vertreten durch spazierengehende Witwen, verliebte Kindermädchen und arbeitsscheue Zeitgenossen". Auch die besseren Leute werden von ihm aufmerksam betrachtet. Der Berliner Westen, das ist "diese elegante Kleinstadt, in welcher alle Leute wohnen, die etwas können, etwas sind und etwas haben und sich dreimal soviel einbilden, als sie können, sind und haben".

Das Tempo, mit dem in Berlin Veränderungen vor sich gehen, macht ihn ein wenig atemlos: "Kommen und gehen - das findet in dieser Millionenstadt rascher statt als in irgendeiner Stadt des Reichs; und in dieser parvenuemäßig emporschießenden Stadt rascher als in irgendeiner anderen europäischen Hauptstadt. Man lebt schnell, die Eindrücke dieser noch im Werden begriffenen Metropole jagen einander, und die Bewohner, deren Gemüt noch etwas ungroßstädtisch Naives hat, reißen die Augen auf und lassen wie die Kinder ein Ding rasch stehen, um rasch ein neues zu betrachten. Während der Dauer der Betrachtung ist eine gewisse Intensität zu beobachten, aber gleich darauf keine Spur der Nachwirkung".

Und die Weltstadt? "Es ist nichts los; doch es hat den Anschein, als ob etwas los wäre". Doch so bleibt es nicht. Nein, in allen Stadtteilen machen sich die Fremden "fühlbar, sie überfluten Berlin. So viele umgehängte Operngläser sind noch nie durch die Straßen Berlins getragen worden wie jetzt. Man hört im Vorbeigehen die unmöglichsten Idiome, vom rauhen, kehligen Holländisch bis zu den weichen, singenden Lauten des Rumänischen. Man riecht die verschiedenen Völker von den Nachbartischen in den Restaurants" (Russen haben eine Vorliebe für stark klobigen Geruch der Balsamierung, Amerikaner und Norweger riechen garnicht, Engländer riechen nach Wasser und Seife, und Herren, die sonstwie riechen, kommen vermutlich aus den Balkanländern. Politisch korrekt ist das nicht, aber Kerr schwächt wenigstens ab: "Man soll ja nie verallgemeinern! Menschen, seid tolerant"). Und dann kommen noch die Provinzler, Onkel und Tante und Cousine, "die man längst verstorben wähnte", und quartieren sich ein. "Berlin ist schön, Berlin ist groß".

Warum fließt der Rhein nicht durch Berlin? Europas große Hauptstädte liegen an berühmten Flüssen, London an der Themse. Paris an der Seine, Wien an der Donau, nur Berlin liegt nicht am altehrwürdigen deutschen Rhein. Kerr hat das bedauert und deshalb eigensinnig behauptet: "Berlin liegt an der Panke".

Kerr war unter dem Namen "Kempner" geboren, seit seinem 20.Lebensjahr verwendete er aber den Namen "Kerr", der ihm später auch offiziell verliehen wurde. Grund der Namensänderung war die Dichterin Friedrike Kempner, auch “Die schlesische Nachtigall” genannt. Sie war ein Genie der unfreiwilligen Komik, ihre Verse von hoher Lyrik hatten meist einen Bruch ins Banale, Unlogische oder einfach Lächerliche. So zum Beispiel in diesem Gedicht über Paris, es reimt sich nur, wenn man den Namen des Flusses "Seine" wie einen deutschen Begriff ausspricht.

Ihr wißt wohl, wen ich meine,
Die Stadt liegt an der Seine,
Entschieden ist's die schönste Stadt,
Die man wohl je gesehen hat.

Vermutlich war sie Kerrs Tante, manche bezweifeln das. Als Bertold Brecht in den 1920er Jahren Kerrs Komik als Erbteil seiner Tante bezeichnete, wehrte Kerr sich mit dem Spruch: "Wenn dem Esel sonst nichts einfällt, fällt ihm meine Tante ein".


Franz Hessel, der Flaneur - ganz persönlich
Ein Berliner reist nach Berlin