Die Vergangenheit überwinden

Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Wittenau
Stadtplanaufruf: Berlin, Pannwitzstraße
Datum: 10. Juni 2020
Bericht Nr.:700

Der Spaziergang mit der runden Zahl 700 ist nicht so easy, wie es sich für ein Jubiläum gehören würde. Zu Anfang müssen wir wegen eines geschlossenen Bahntunnels umkehren. Und am Ende können wir einem kleinen Urwald nur durch eine illegale Zaunlücke entfliehen. Dafür begleitet uns die "7" nicht nur in der Zahl der Berichte. Wir sind 7 Kilometer unterwegs, die Hausnummer des Friedhofszugangs ist die "70", und das Industrieareal am Eichborndamm umfasst etwas mehr als 70 Grundstücke.

Industriekomplex Borsigwalde
Der Eichborndamm wird auf einer Länge von 900 Metern flankiert von einer Gebäudefront aus Backsteingebäuden, die 72 Grundstücke umfassen. Im Jahr 1906 begann die DWM Deutsche Waffen- und Munitionsfabrik, hier einen Industriekomplex zu erstellen, der sich in einem trapezförmigen Straßenkarree bis zur Holzhauser und Miraustraße erstreckt. Östlich der Miraustraße wurde für das Gewerbegebiet der Güterbahnhof Borsigwalde eingerichtet, der heute nicht mehr besteht. Gegenwärtig nutzen den ehemaligen Industriestandort Dienstleistungs-, Handels- und Produktionsbetriebe, darunter ein Indoor-Freizeitpark und ein Spielcasino, wie wir vor sechs Jahren bei einem Spaziergang an Rückseite des Gebäudekomplexes in Borsigwalde gesehen haben.

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Die DWM war ein Rüstungsbetrieb, der in beiden Weltkriegen Kriegswaffen und andere Rüstungsgüter herstellte. In der Zwischenkriegszeit, als der Versailler Vertrag die Rüstungsproduktion verbot, behielt das Unternehmen seine Marke aus den drei Großbuchstaben DWM bei und verstand sie nun als Abkürzung für "Deutsche Waggon- und Maschinenfabriken", ihre neue Produktionslinie für zivile Güter. Das Unternehmen war von Ludwig Loewe gegründet worden, der mit der Herstellung von Nähmaschinen begann und schließlich ein ganzes Imperium von Waffenfabriken schuf.

Im südlichen Teil der ehemaligen Büro- und Lagergebäude am Eichborndamm werden heute die Dokumente der Berliner Geschichte seit Anbeginn aufbewahrt, beginnend mit einer Urkunde von 1298. Eindrucksvoll ist die Liste des weiteren Archivguts, betreffend historische deutsche Frauenbewegung, Magistrat, DDR-Massenorganisationen, Senat, Justiz, Finanzen. Im weiteren Straßenverlauf folgt am Eichborndamm ein Frevel an der Bausubstanz: Aldi durfte eine Fabrikhalle aus dem Gesamtkomplex abreißen und dafür einen Verkaufspavillon aufstellen, zurückgesetzt von der Straßenfront. Dann folgen wieder alte Industriegebäude, die das Bundesarchiv für seine Wehrmachtsauskunftsstelle (jetzt "Personenbezogene Auskünfte") nutzt.

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Pannwitzstraße
Die Pannwitzstraße beginnt am Eichborndamm und findet nach einem Kilometer wieder zu ihm zurück, nachdem sie einen Kreisbogen beschrieben hat. Der Architekt Erwin Gutkind hat in diesem Kreissegment die Siedlung Stadtpark angelegt, von der einzelne Häuser denkmalgeschützt sind. Die Front der Siedlungshäuser öffnet sich im Erdgeschoss und im Dachgeschoss mit je zwei Fenstern nebeneinander. Die zweite Wohnetage unter dem Spitzdach ist mit ausladenden Dachgauben ausgebaut. Diese Häuser sind kleiner und schlichter als die Siedlungshäuser Grünland, die wir vor kurzem gesehen haben. Was beide Siedlungen verbindet, ist die Betonung des voll ausgebauten Daches als Wohngeschoss.

Zwei Reihenhausanlagen an der Pannwitzstraße hat 1938 der Architekt Wolfgang Werner erbaut. Eine weitere Siedlung in Reinickendorf - Roter Adler - errichtete er zur gleichen Zeit im Volkswohnungsprogramm des Dritten Reichs. Das Programm sollte "minderbemittelte Kreise", insbesondere kinderreiche Familien, unterstützen. Gebaut wurden "Mietwohnungen in ein- und mehrgeschossiger Bauweise, die hinsichtlich Wohnraum und Ausstattung äußerste Beschränkungen aufweisen”. Sie mussten vor allem billig sein, ohne Balkone und Loggien, mit einfacher Küchen- und Sanitärausstattung. Das war kritisch, selbst das Propagandaministerium sorgte sich darüber, dass die nationalsozialistisch gefärbte Vokabel "Volk" mit solchen Wohnungen in Verbindung gebracht wird.

Pannwitz-Familie
Albrecht Wilhelm von Pannwitz, Gutsbesitzer und Landrat des Kreises Niederbarnim, ist der Namensgeber der Straße. Die adligen Pannwitzens werden als Uradel aus Schlesien bezeichnet. In Berlin und Umgebung gibt es auch gegenwärtig adlige und weitere nichtadlige Pannwitzens, wie der Blick ins Telefonbuch zeigt.

Auf diesem Spaziergang hätten wir uns gern von einem Freund begleiten lassen, der ein Spross der Pannwitz-Familie ist. Leider hat das nicht geklappt. Wir haben aber ein bisschen von seiner Lebensgeschichte erzählt bekommen: Es scheint viele Pannwitz Familien zu geben, sagt er, zu den Adligen gehört seine Familie nicht und auch zu den anderen Pannwitzens hat er keine familiären Bezüge. Die Urgroßeltern lebten in Schlesien (Anmerkung von mir: typisch für Berlin, angeblich stammt jeder zweite Berliner aus Schlesien).

Er ist in eine Nazi-Familie hineingeboren, sein Vater war SS-Hauptsturmführer, arbeitete bei der Gestapo in Prag. Der Sohn ist nach dem Krieg aufgewachsen und hat einen ganz eigenen positiven Weg gefunden. Als Jugendlicher in die USA "emigriert", danach in Deutschland als Gemeinwesenarbeiter bei der Kirche für die Gemeinschaft engagiert. Schließlich als Senior mit der Methode "Open Space" Gruppen angeleitet, selbstorganisiert Lösungen zu finden, indem sie wesentliche Aufgabenstellungen erörtern und Handlungspläne verabreden. Diesen Freiraum erobern die Teilnehmer sich selbst, er ist nicht mehr dabei, nachdem er den Anstoß gegeben hat. Kein Zwang für die Teilnehmer: Wer sich langweilt, geht (das "Gesetz der zwei Füße"). Andere anleiten und dann sich selbst überflüssig machen, das ist die Haltung eines abgeklärten Geistes.

Alter Anstaltsfriedhof der Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik
Zwischen Pannwitzstraße und Im Hufenschlag endet in einer spitzen Ecke der völlig überwucherte frühere Anstaltsfriedhof der Nervenheilanstalt am äußersten Rande des ehemaligen Klinikgeländes. Einen Zugang muss man selbst finden, kein Schild weist auf die Existenz des Friedhofs oder einen Eingang hin. Durchqueren kann man den Friedhof nur auf einem schmalen Pfad zwischen dem wuchernden Grün. Betritt man diesen Weg, stößt man nach kurzem auf die gemauerten Reste der Pfeiler, die das Friedhofstor umfassten. Grabsteine findet man keine mehr, sie wurden vor 25 Jahren bei der Auflösung des Friedhofs abgeräumt. Mindestens zwei Brunnen für das Gießwasser kann man noch unter dem Grün entdecken.

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Von den beiden Straßen ist der Friedhof durch Mauer und Zaun getrennt. Die äußerste Ecke ist wie eine "kleine Neugierde" in Parks von einer gefällig abgerundeten Mauer umgeben. An seiner Ostseite geht der Friedhof ohne weitere Abgrenzung in ein Waldgelände über. Oberhalb der eingezäunten Bahnstrecke kann man hier an einem verlandeten See und dem zugangslosen S-Bahnhof Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik vorbei bis zur Oranienburger Straße kommen, die man über einen von außen nicht gekennzeichneten Pfad erreicht.

Was verbirgt dieser Friedhof? Der Anstaltsfriedhof wurde für Patienten eingerichtet, aber auch Pflegekräfte und Ärzte konnten sich hier bestatten lassen. 70 Jahre lang wurden hier Patienten ohne Angehörige oder ohne Mitwirkung von Familienangehörigen beigesetzt. Zwischen 1933 und 1945 starben in den Wittenauer Heilstätten mehr als 4.600 Patienten. Wie viele hier beerdigt wurden, kann nicht mehr festgestellt werden, das Friedhofsbuch ist nicht mehr vorhanden („verschwunden“). In der Nazizeit wurden in der Nervenklinik im Rahmen der Euthanasie Patienten gezielt ermordet, Ärzte nahmen an der "Vernichtung unwerten Lebens“ teil. Auch in der Nebenstelle Wiesengrund der Klinik - zynisch Kinder"fachabteilung" genannt - am Eichborndamm wurden Kinder gequält und ermordet. Unerträglich ist schon die Bezeichnung als "Reichsausschusskinder", die als "Ballastexistenzen eine Gefahr für den deutschen Volkskörper darstellen".

Der Alte Anstaltsfriedhof soll zu einem Gedenkort werden. Eine Ausstellung "Totgeschwiegen 1933- 1945“ wurde in einem Klinikbau eingerichtet, eine Gedenktafel an der Oranienburger Straße erinnert an die Opfer. Ein Freundeskreis hat erreicht, dass sich die Bezirksverordnetenversammlung mit dem Konzept für einen Gedenkort auf dem Friedhof beschäftigt. Im Gespräch ist neben der Befreiung des Friedhofs von Gestrüpp ein gläserner Schaukasten mit ausführlichen Informationen im Eingangsbereich des Klinikgeländes. Das wäre mir zu wenig. Man sollte die Ausmaße des Friedhofs durch markante Einfassung der Wege und der Umrisse der Feierhalle sichtbar machen und die "kleine Neugierde" als Ziel des Rundgangs besonders ausgestalten.


Heute können wir zu einem vertrauten Ritual zurückkehren und wieder ein - lang vermisstes - Flaniermahl einnehmen. Wir sitzen im Innenraum eines Italieners direkt am Fenster, im Außenbereich angrenzend vor der Scheibe versucht ein Vater, sein sehr mobiles Krabbelkind auf dem Tisch zu sichern, während er Zeitung liest und ein Bier trinkt. Jeder weiß, dass man so nicht mit Verständnis Zeitung lesen kann. Dann kommt der zweite Vater, wird vom Krabbelkind in Beschlag genommen, gegenseitige Freude. Der erste Vater kann jetzt Zeitung lesen, aber macht ihn das glücklich?

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Unsere Route:
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Zwei Siedlungen und ein Hünengrab
Die drei Jahreszeiten von Reinickendorf