Ein gebratenes Hühnchen lernt fliegen

Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Wittenau
Stadtplanaufruf: Berlin, Alt-Wittenau
Datum: 24. Februar 2020
Bericht Nr.:688

Das Jahr 2020 ist ein Schaltjahr, es fügt dem Februar einen Tag - den 29. Februar - hinzu, um den Tageslauf perfekt mit dem Sonnenlauf zu synchronisieren. In Wittenau gibt es an der alten Dorfkirche einen Grabstein, der für einen Spross der Familie Dessin den "31. Februar" als Todestag nennt. Das sind ein paar Tage mehr, als der Kalender erlaubt und wird einem Steinmetz zugeschrieben, der die falsche Zahl eingraviert hat - keiner hat‘s gemerkt? Die Dessins waren ein Wittenauer Familienclan. Johann Dessin war Bauer und Kirchenvorsteher, nach ihm ist eine Straße benannt. Bäckermeister Julius Dessin hat zwei Häuser am Eichborndamm erbaut, die als "Dessinische Häuser" in der Denkmaldatenbank geführt werden. In einem dieser Häuser hat der Molkereibesitzer Fritz Dessin wegen wirtschaftlicher Schwierigkeiten in einem erweiterten Selbstmord einen Sohn mit in den Tod genommen.

Spitze Straßenecke und abgerundete Schule
Ein spitzwinklig zulaufendes Straßenkarree kann eine Herausforderung für Architekten sein, wenn sie ein ausladendes Schulgebäude in diese dreieckige Fläche integrieren sollen. Gelöst haben es nahezu zeitgleich, aber unabhängig voneinander, zwei kreative Architekten, indem sie sich der Spitze des Grundstücks mit einer Rundung des Gebäudes angenähert haben.

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Max Taut hat das am Nöldnerplatz in Lichtenberg gelöst, indem er das Schulgebäude in der Grundform einer Parabel möglichst weit in die Spitze hineingezogen hat. Für Jean Krämer war die Lösung in Wittenau schwieriger, weil die Spitze des Geländes von einer Grünfläche belegt war. Er blieb weit von der Spitze entfernt, indem er mit einem halbkreisförmigen Gebäude die ganze Breite zwischen den Schenkeln des Dreiecks nutzte. Den Abschluss bilden zwei Pavillons.

Geschi Brotfabrik
Ein Backsteingebäude in Alt-Wittenau 89-91 ist der traurige Überrest der Geschi-Brotfabrik, deren letzter Inhaber Horst Schiesser sich mehr um wahnwitzige Firmenübernahmen als um seine Brötchen kümmerte. Ursprünglich stand auf den Grundstücken bis zur Roedernallee ein Mühlengehöft, dann wurde eine Ziegelei hier eingerichtet. In den ehemaligen Ziegeleigebäuden produzierte ab 1917 eine Brotfabrik, die sich zu einer Großbäckerei entwickelte und 1933 das Backsteingebäude erbauen ließ. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden Gerhard Schiesser und ein Partner Inhaber des Backbetriebs, aus Schiessers Vor- und Nachname wurde der Kunstname Geschi geformt. Nachfolger des Partners wurde Horst Schiesser ("Geschi-Brot Schiesser und Sohn"), der den Backbetrieb schließlich ganz übernahm.

Es gibt manche Beispiele, dass ein Sohn den von seinem Vater aufgebauten Betrieb ruinierte, Geschi Brot gehörte dazu. Aus der ersten finanziellen Schieflage kam Schiesser heraus, indem seine Gläubiger ihm bei einem Vergleich einen Teil der Schulden erließen. 1997 warf Aldi alle Geschi-Produkte aus seinen Regalen, ein Viertel des Umsatzes war weg, Geschi war pleite. Da kam er nicht so leicht heraus wie 1986 bei dem Kauf der gewerkschaftseigenen "Neuen Heimat" mit 200.000 Wohnungen für 1 Mark. Kein Schnäppchen, wie er schnell merkte, aber er ließ sich den Ausstieg nach 43 Tagen finanziell versüßen.

Der Wohnungskonzern stand kurz vor dem Zusammenbruch und hatte vereinbart, dass der Bäckermeister nicht nur den Wohnungsbestand, sondern auch die Schulden von 17 Millionen Mark übernimmt. Es fehlte so offensichtlich an Schiessers Kreditwürdigkeit, dass die Banken nicht mitspielten. Schiesser verkaufte die Wohnungen zurück und erhielt dafür eine "Abfindung" von mehreren Millionen.

Nach der Wende wollte Schiesser der Treuhand Konkurrenz machen, wieder mit fremdem Geld. Er plante, der DDR-Regierung die gesamte Ost-Wirtschaft abzukaufen für 713 Milliarden Mark. Die Milliarden hatte er nicht, die Bundesrepublik Deutschland sollte sie ihm als zinsloses Darlehen geben. Man könnte spekulieren, ob Schiesser es so viel schlechter gemacht hätte als die Treuhand, aber natürlich kam dieser Deal gar nicht erst zustande.

Siedlung Roter Adler
Um die unansehnliche, aber denkmalgeschützte Siedlung "Roter Adler" am Fräsersteig hat es einen Denkmalstreit gegeben, ein Hauseigentümer wollte das Äußere ohne Genehmigung verändern. Die Siedlung wurde 1938 mit dem Volkswohnungsprogramm der Nazis errichtet und gilt als "wichtiges Dokument des ideologisierten Wohnungsbaus im Dritten Reich". Die Häuser werden dort als Zeitzeugnis geschützt, und nicht weil sie "schön" sind, wie ein weitverbreitetes Missverständnis besagt. Berlin hat den größten zusammenhängenden Bestand an Kleinhaussiedlungen der 1920er und 1930er Jahre in Deutschland, den gilt es - unabhängig von der politischen Entstehungsgeschichte - zu bewahren.

Alt-Wittenau
Die Straße Alt-Wittenau war die "Hauptstraße" des Dorfes, erst 1952 wurde sie umbenannt, indem man dem Ortsnamen "Alt-" voransetzte. Das wurde in Berlin generell gemacht, wenn auch zu unterschiedlichen Zeiten, um die Häufung von "Dorfstraßen" und "Hauptstraßen" in den eingemeindeten Dörfern zu vermeiden.

Der Dorfanger mit der Dorfkirche von 1486 wird von den Bauten des Ortskerns Wittenau umgeben. Auch wenn es hier keine "Millionenbauern" wie in Schöneberg gab, sieht man doch an mehreren Grundstücken, wie die dörfliche Bebauung den vorstädtischen Häusern weichen musste. Durch die Anschlüsse an die Nordbahn (1877) und an die Kremmener Bahn (1893) und den Bau der Werkssiedlung Borsigwalde (1899) zogen mehr Bewohner nach Wittenau. Der 1877 begonnene Bau einer Irrenanstalt wurde von den Einwohnern als Belastung empfunden, woran auch die Umbenennung von "Dalldorf" in "Wittenau" nichts änderte, wurde doch auch der neue Ortsname schnell zum Synonym für Irrenhaus. Die "Karl-Bonhoeffer-Nervenklinik" erlitt nach dem Krieg als "Bonnies Ranch" dasselbe Schicksal.

Der Gemeindevorsteher Paul Witte war der Namensgeber für die Umbenennung. Er hatte gut geerbt und reich geheiratet. Sein Vater vererbte ihm das Anwesen Alt-Wittenau 55, durch die Heirat mit Friederike, der Tochter des Bauern Hausotter, kam der Bauernhof seines Schwiegervaters hinzu und schließlich baute er in Alt-Wittenau 34 ein eigenes Haus, das er mit seiner Familie bewohnte.

Die Kossätenstraße in Wittenau ist nach den Kleinbauern benannt, die eine Bauernkate mit wenig Land besaßen und für die Bauern arbeiten mussten. Ein "Kossätenaufstand" brach los, als die Wittenauer erfuhren, dass ihren Kollegen im angrenzenden Rosenthal mehr Land zugeordnet wurde. Ein Schlichter veranlasste, dass unter anderem von dem Grundherren Hausotter Land an die Wittenauer Kossäten abgetreten wurde.

Am westlichsten Zipfel von Alt-Wittenau weist an einem verwahrlosten Grundstück ein Schild auf den "Hüttenhof" hin. Die Pferdekutschen aus Oranienburg machten hier Rast, die Pferde wurden ausgespannt. Fahrgäste und Kutscher konnten in dem Gasthof "Zur Hütte" übernachten, der direkt auf der Ecke Alt-Wittenau und Roedernallee stand.

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Der Schuhhandelskonzern "Leiser" warb bis vor kurzem mit einer Leuchtreklame in Schreibschrift an den Läden. Inzwischen sind dort Druckbuchstaben zu sehen mit dem etwas gezwungen wirkenden Gag, dass der letzte Buchstabe als Figur dem vertikal gespiegelten ersten Buchstaben entspricht. In Alt-Wittenau ist beim Laden "Weser-Schuhe" eine Leuchtschrift zu sehen, die noch aus der Nachkriegszeit stammt und Schreibschrift zeigt.

Nordkanal
Alt-Wittenau liegt zwischen dem Nordgraben im Süden und dem kurzen Spießweggraben im Norden. Beides sind künstlich angelegte Entwässerungsgräben. Der Nordgraben verbindet Panke und Tegeler See. Als Vorfluter leitete er bei Hochwasser den Wasserstand der Panke teilweise ab. Es ist heute kaum vorstellbar, dass die Panke als gemächlich dahinplätschernder Fluss durch Schneeschmelze oder Wolkenbrüche gefährliches Hochwasser führen konnte. Im April 1902 war die Innenstadt so überschwemmt, dass in der Yorckstraße und der Friedrichstraße das Wasser bis zu einen Meter hoch stand.

Der Nordgraben sollte gleichzeitig einen geplanten, aber nie verwirklichten Kanal vorbereiten, den Nordkanal. Den ersten Wettbewerb dafür gab es bereits 1886, der Berliner Nordosten sollte durch ein Gegenstück zum Teltowkanal erschlossen und die Spree entlastet werden. Von Köpenick bis zum Tegeler See oder bis zur Havel sollte er führen und dabei Wuhlheide, Biesdorf, Lichtenberg, Weißensee, Hohenschönhausen, Pankow, Blankenburg, Reinickendorf, Rosenthal, Wittenau und Tegel berühren. Es gab mehrere Planungen mit unterschiedlichen Verläufen, die aber jedes Mal wegen der gigantischen Kosten wieder in der Schublade verschwanden.

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Kirche St. Nikolaus
An der Techowpromenade steht eine moderne Kirche mit zick-zack-förmigen Seitenwänden und einem Campanile. Sie ist dem Heiligen St. Nikolaus gewidmet. Es gibt mehrere Nikoläuse, das gab die Gelegenheit, den früher in Dalldorf als Kirchenpatron verehrten Nikolaus von Myra, der uns den 6. Dezember beschert hat, gegen Nikolaus von Tolentino auszutauschen. Auch dieser Nikolaus war wundertätig.

Statt unseres Flaniermahls beschreibe ich hier zum Schluss eines seiner Wunder. Nikolaus von Tolentino ernährte sich vegetarisch, insofern wirkt er heute ganz diesseitig. Doch seine Gabe, mit Fleisch umzugehen, hebt ihn aus unseren heutigen Vegetariern hervor. Es wird berichtet: "Als ihm eines Tages ein gebratenes Hühnchen vorgesetzt wurde, schlug er das Kreuz über dem Braten und der Vogel erhob sich in die Luft und flog davon".
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Erhaben wie ein grauer Wal