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Sie kleidet den Reichen - Sie naehret den Armen


Stadtteil: Steglitz
Bereich: Schloßstraße, Albrechtstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Heesestraße
Datum: 25. Oktober 2010

Vom Wedding führt eine Spur der Berliner Seidenproduktion nach Steglitz. In der „Gabain’schen Seiden- und Tapetenfabrik“ von Carl Gropius in Wedding (--> 1) hatte Johann Adolf Heese das Seidenwirker-Handwerk gelernt, dann hatte er Raules Hof auf dem Friedrichswerder gekauft und sich dort mit seinem eigenen Unternehmen niedergelassen. Den Gabain'schen Lehrbetrieb kaufte er später dazu, denn Martin Gropius, der Sohn des Inhabers, wollte nicht im väterlichen Betrieb bleiben, er machte sich später als Architekt einen Namen.

Das Anwesen „Raules Hof" war von dem Abenteurer, Kaufmann und Reeder Benjamin Raule angelegt worden. Er hatte die Afrikanische Handelsgesellschaft gegründet und am brandenburgischen Sklavenhandel verdient, der 1683 an der Küste von Guinea unter dem Kommando von Groebens begann. Den Schiffsverkehr zum Fort Groß Friedrichsburg in Guinea organisierte Raule mit seiner Flotte als "General-Director der Marine", und auch nachdem er seine neun Schiffe mit 176 Kanonen an Bord an den brandenburgischen Kurfürsten verkauft hatte, blieb er "Generaldirektor der brandenburgischen Seemacht." Die Straße, an der das Anwesen lag, gibt es heute nicht mehr, hier wurde die Reichsbank und später das Auswärtige Amt errichtet.

Heese produzierte also zunächst auf Raules Hof, legte aber 1840 in Steglitz Maulbeerplantagen für die Seidenraupenzucht an und zog schließlich ganz nach Steglitz um. Die "Plantagenstraße" als Querstraße der Albrechtstraße und parallel dazu die "Heesestraße" verweisen auf diesen Standort, auch die "Filandastraße" hat mit den Seidenraupen zu tun. Wenn man liest, Filanda sei der italienische Begriff für eine "Anlage zum Abhaspeln der Seidenkokons" ist man als Laie vielleicht auch nicht viel schlauer. Gemeint ist damit, dass die Seidenraupen-Larven in den Kokons durch Wasserdampf abgetötet werden und dann der bis zu 900 Meter lange Seidenfaden von dem Kokon abgespult wird.

Die Hugenotten hatten das know-how der Seidenherstellung und der Kultivierung von Maulbeerbäumen mit nach Preußen gebracht. Im 18.Jahrhundert drängte Friedrich der Große Lehrer, Pfarrer und andere Bevölkerungskreise, sich an der Produktion von Seide zu beteiligen und förderte die Seidenraupenzucht und die Seidenherstellung mit Subventionen und Preisgarantien. So hatte z.B. der Namensgeber der Weitlingstraße in Lichtenberg, ein Lehrer, 44 Maulbeerbäume gepflanzt und produzierte im Jahr fünf Pfund reine Seide (--> 2). Der Gutsherr von Britz, der preußische Minister Graf Ewald von Hertzberg, errichtete dort einen Musterbetrieb der Seidenproduktion und ließ das Motto „Sie kleidet den Reichen - Sie naehret den Armen" auf Münzen prägen. In der Poststraße 23 in Mitte existierte im 18.Jahrhundert die „Seiden Band Fabrik Carl Knobloch", heute ist dort ein Museum.

Mit dem Tod Friedrichs des Großen 1786 wurden die Subventionen eingestellt, die Seidenproduktion wurde unbedeutend. Erst 1840 hat Heeses Maulbeerplantage in Steglitz eine neue Phase der Seidenproduktion eingeleitet. Heute hat dieses Thema nur noch eine historische und keine wirtschaftliche Bedeutung mehr. Die Maulbeerbaumplantage ist für uns eine Zufallsentdeckung. Nach Steglitz gekommen sind wir, um den Bierpinsel mit seiner veränderten Oberfläche zu betrachten. Die Idee, die seit den 1970er Jahren einfarbig rote Ikone der Nachkriegsmoderne vorübergehend als Fläche für die Kunst herzugeben, hat die Aufmerksamkeit auch derjenigen geweckt, für die der Bierpinsel ein nicht mehr wahrgenommenes selbstverständliches Stadtmöbel ist. Nun regt sich Widerstand (unter anderem der Architekten), andererseits hört man Beifall. Durch ein geschicktes Beiprogramm wird die fachliche Diskussion über Kunst und Architektur gefördert. Es kommt nicht darauf an, ob man die Kunst am Bierpinsel "schön" findet oder ob man den Bau vorher gemocht hat, hier wird einfach bauliches Erbe bewusst gemacht und das mit einem guten Händchen der beiden Damen, in deren Händen der Bierpinsel jetzt ist. Werden die Kunstwerke wirklich irgendwann wieder entfernt? So manches Temporäre ist Dauerlösung geworden, man wird sehen. Vielleicht wird von Zeit zu Zeit anderen Künstlern die Möglichkeit geboten, sich hier zu präsentieren.

Die bestellten Graffiti fangen bereits im U-Bahnhof an, und an der Sockelwand des Gebäudes sind offensichtlich schon "freie" Graffiti-Erzeuger tätig geworden. An der Schildhornstraße gegenüber kommt die Großbaustelle des Karstadt-Kaufhauses aus dem Erdboden, mehrere Baukräne bewegen sich zwischen den Bauten. An der Schloßstraße ist nur ein kleines Gerippe der alten Wertheim-Kaufhausfassade stehen geblieben, es sieht nach Alibi aus.

An der Albrechtstraße verlassen wir die Schloßstraße. Viele Bauten an der Albrechtstraße sind im Krieg zerstört worden, die stehen gebliebenen Gründerzeithäuser zeigen stolz ihre phantasievollen Giebel und ihre Medaillons, Ornamente und Skulpturen. Hier gibt es Eckhäuser mit einem janusköpfigen Doppelgiebel und an der Bergstraße Ecke Heesestraße das alte Postamt von 1909. Ein früheres Postamt von 1875 an der Albrechtstraße musste neunzig Jahre später der Stadtautobahn weichen.

In der Kantstraße, die sich zwischen Filanda- und Lessingstraße verbirgt, steht ein kleines Biotop von Mehrfamilienhäusern, die nach Information der "Berliner Morgenpost" nicht auf einen Architekten, sondern auf den Maurermeister Wilhelm Conrad zurückgehen und abwechslungsreiche Ziegel- und Putzelemente enthalten.

In einer Trattoria an der Hauptstraße Ecke Hähnelstraße endet unser heutiger Spaziergang. Der Laden brummt wie gewöhnlich, die Bedienung ist erträglich, das Essen kommt nicht zur gleichen Zeit auf den Tisch, aber geschmeckt hat's trotzdem.

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(1) mehr zu Gropius und Seide im Wedding: Gesund trotz vieler Apotheken
(2) über Weitlings Seidenraupenzucht: Die Stasi baut eine Kirche


Merkwürdige Grenzverläufe
Ein gradliniger Lebenslauf