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Mänaden tanzen auf der Fassade


Stadtteil: Steglitz
Bereich: Südende
Stadtplanaufruf: Berlin, Karl-Stieler-Straße
Datum: 31. August 2023
Bericht Nr.:815

Beim Flanieren werden wir öfter misstrauisch beäugt, manchmal auch kritisch angesprochen. "Es ist nicht leicht für unsereinen", hatte schon Franz Hessel beim Flanieren in Berlin festgestellt. Für uns ist heute ein besserer Tag, es gibt ungewöhnlich freundlichen Zuspruch. Damit ich ein Gebäude bei strömendem Regen bis zum Dach hoch fotografieren kann, ohne die Linse vollzuregnen, sichert meine Frau mich mit zwei Regenschirmen ab. Eine Passantin beobachtet uns dabei, schmunzelt und bietet an, uns zu fotografieren.

Vor dem Jugendstileingang eines Wohnhauses steht eine junge Frau und telefoniert. Als ich sie darauf anspreche, dass ich den Hauseingang fotografieren möchte, ist sie völlig überrascht, was man denn dort sehen könne? Sie wohnt in dem Haus, hat die Reliefs und den schmiedeeisern eingefassten gerundeten Balkon darüber noch nie bewusst gesehen. Wir haben uns nett unterhalten, fröhlich verabschieden wir uns nach dem Gespräch voneinander.


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Im Innenhof eines Grundstücks finden wir ein historisches Fachwerkhaus, vor dem ein parkender Wagen ausgeladen wird. Ich frage den Fahrer, wann er wegfahren wird, weil ich das Haus fotografieren möchte. Bereitwillig rangiert er kurz darauf sein Fahrzeug in eine seitliche Nische und gibt den Blick frei. Hinter dem Fachwerkhaus finden wir einen historischen Turmbau. Als wir uns diesem privaten Hof vorsichtig nähern, bittet uns eine junge Frau freundlich, näherzukommen und erzählt uns noch etwas zu dem Turmbau.

Südende
Vom Insulaner bis fast zum Teltowkanal herunter erstreckt sich der Steglitzer Ortsteil Südende, der in unserer Vorstellung meist nur mit der Landhauskolonie an zwei Pfuhlen nördlich des Steglitzer Damms verbunden wird. Westlich davon liegt die Südendstraße, die von der Bahnlinie Steglitz zum Friedhof Bergstraße führt. Sie zeigt auf Südende, liegt aber nicht im Ortsteil. Südlich des Steglitzer Damms gehören noch Wohnsiedlungen an der Albrechtsstraße und Stephanstraße zu Südende, die wir heute im Blick haben.

Die Mänaden - tanzende Begleiterinnen
Die Stephanstraße wird bis um die Ecke zur Borstellstraße von einer Gruppe von Mietshäusern flankiert, die im einheitlichen Erscheinungsbild 1906 von den Zimmermannsmeistern Carl und Emil Schneider erbaut wurden. Reichhaltig, fast überladen sind die Fassaden geschmückt mit Ornamenten, Kartuschen, Medaillons und Reliefs, wobei das Thema Tanz den Fassadenschmuck beherrscht. Tänzerinnen, Tänzer, einzeln oder um Masken gruppiert, wiederholen sich - teilweise abgewandelt - als Motive.

Die Tänzerinnen sind nach antiken Vorbildern geformt, beeinflusst von Linien des Jugendstils. Meist wurden Mänaden als Vorbild gewählt, die Begleiterinnen des Gottes Dionysos bei Wein, Freuden, Wahnsinn und Extase. Aber wie kommt es zu dieser Häufung von Tanzmotiven auf den Fassaden? Man könnte vermuten, der Bauherr hätte einen Bezug zu diesem Thema bekunden wollen, aber die Zimmermeister sind selbst als Bauherren aufgetreten und hatten eher wirtschaftliche Ziele.


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Musterbücher
Im Zeitalter der Industrialisierung konnten Bauherren und Architekten auf Musterbücher zurückgreifen, konnten sich aus Abbildungen und Bauelementen ihr Gebäude zusammenstellen. Der Gründervater der industriellen Normung (DIN), Peter Beuth, gab 1821 ein Musterbuch "Vorbilder für Fabrikanten und Handwerker" heraus. Weitere Vorlagenwerke sind - teilweise digitalisiert - in Museen zu finden.

So werden für die Wohnhausgruppe in Südende die Motive aus dem Katalog einer Fabrik für Stuckaturen ausgewählt worden sein, womöglich mit Mengenrabatt bei einer so großen Bestellung. Die Zimmermeister haben ihre Ausbildung als Baumeister an einer Baugewerkschule erworben, so dass sie architektenähnliche Aufgaben übernehmen konnten. Die Baugewerkschule Berlin ist 1893 vom Berliner Stadtbaurat Ludwig Hoffmann geradezu als ein gebauter Musterkatalog der Architektur gestaltet worden.

George Grosz
Ein Skelett in Rekrutenmontur, das auf Militärtauglichkeit untersucht wird: Makaber, diese Zeichnung von George Grosz zeigt die bittere Ironie einer vom Krieg tief verletzten Seele, die Erschütterndes in den Schützengräben des Ersten Weltkriegs erfahren hatte. Vor dem Krieg zeichnete Grosz Straßenszenen aus der glitzernden Großstadtwelt, aber auch die Schattenseite der Stadt. Nachdem er 1916 dienstunfähig aus dem Kriegsdienst entlassen war, wurden seine Bilder drastischer, provokanten und satirischer. Er stellt die Hölle dar, zu welcher die Erde im Krieg geworden war.

Er hielt der Gesellschaft mit all ihren Widersprüchen den Spiegel vor, zeichnete Kriegskrüppel, feistes Bürgertum, die Reichen und Mächtigen, Spießbürger, das Proletariat, das Rotlichtmilieu, mit der Zeichenkunst als Waffe. Als "Georg Groß" 1893 geboren, änderte nach den Kriegserfahrungen seinen Namen in "George Grosz" als Protest gegen den deutschen Nationalismus.


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Grosz ist in Berlin mehrfach umgezogen, 1916 nahm er seine Wohnung in der Borstellstraße 36 in Südende. Nur eine Querstraße weiter arbeitete er in der Stephanstraße 15 in seinem Atelier. Über das Atelier wird berichtet, dass er es als eine Art „Jahrmarktsbude“ ausschmückte, tapeziert mit Kitsch, Ramsch, und Partikeln aus der ihn umgebenden Welt. "Sein künstlerischer und künstlicher Lebensbereich war eine Art Schaubuden-Museum". Grosz selbst nanntes es "ein Zelt wie auf einem Jahrmarkt". Die beiden Adressen von Grosz in Südende sind inzwischen ausgelöscht. In der Borstellstraße steht ein Neubau, die Stephanstraße 15 ist - wie friedlich! - unbebaut und mit einer Grünfläche bedeckt.

Mit schwarzem Humor hatte Heinz Erhard gedichtet: "Der eine hängt am Leben, der andere hängt am Strick". Bitterer Ernst ist die Realität, die Grosz in seinem Querschnitt durch ein Mietshaus zeichnet: "In einem Fenster geht einer mit einem Besen auf seine Frau los, im zweiten lieben sich zwei, im dritten hängt jemand, von Fliegen umsummt, am Fensterkreuz".

Markusplatz, Markuskirche

Die Markuskirche in Steglitz hat die Architektengemeinschaft Jürgensen und Bachmann gebaut, die auch in Hessenwinkel die Waldkapelle "Zum anklopfenden Christus" entworfen hat. Jene Kapelle aus hellroten Ziegeln, die Ecken mit Wandvorsprüngen, unterteilt in Quader, ein Bau, der im Architekturstil irgendwo zwischen Historismus und Moderne angesiedelt ist. Die Markuskirche wird dagegen beschrieben als verputzter Mauerwerksbau, der "in seinem Äußeren ohne historisierendes Dekor auskommt". Man könnte auch sagen, sie ist schlicht und schmucklos.

Und dann auch noch nach Kriegszerstörung "in vereinfachter Form wiederaufgebaut", das bedeutet, dass schmückende oder als überflüssig erachtete Elemente entfernt oder reduziert wurden, um Kosten zu sparen. Wenn der Originalbau schon schlicht und schmucklos war, dann wird der Spielraum für Einsparungen nicht sehr groß gewesen sein.

Die Kirche und die gegenüberliegende Gemeinde-Doppelschule sind 1911 und 1912 erbaut worden, zur gleichen Zeit wie die Wohnanlage Albrechtspark südlich davon. Die umliegenden Straßen sind 1910 benannt worden, ihre Lage verdanken sie einem Bebauungsplan. Während Schule und Kirche in räumlichem Zusammenhang meist auf eine historische Ansiedlung wie ein Dorf hindeuten, ist hier kurz nach 1900 das dreieckige Gelände Steglitzer Damm / Halskestraße / Albrechtstraße planmäßig bebaut und damit ein neues Zentrum geschaffen worden. Dafür spricht, dass die Gemeindeschule von Hans Heinrich Müller errichtet wurde, der seinerzeit Gemeindebaumeister in Steglitz war.

Hans Heinrich Müller ist uns mit Bauten für die Elektroversorgung Berlins bekannt, die er in phantasievoller Fülle an vielen Orten im Stadtgebiet für die Bewag errichtet hat. Hier in der Karl-Stieler-Straße steht ein konventioneller Schulbau, den er in einer früheren Schaffensphase errichtet hat. Ein Putzbau mit jeweils zu dritt zusammengefassten Fensterachsen mit Mosaiken, die vorspringenden Gebäudeenden als getrennte Eingänge für Knaben und Mädchen mit Bossenwerk, Putten und Figuren geschmückt. Ein fröhliches Bild, das durch den gegenüberliegenden Markusplatz bereichert wird, der eigentlich ein tiefergelegter Park ist.


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Fachwerkhaus mitten im Straßenkarree
An der Albrechtstraße nahe Siemensstraße führt ein offener Durchgang in den Hof zu einem Fachwerkhaus, das mitten in einem Straßenkarree steht. Dahinter ein weiteres kleines Fachwerkhaus, an das ein niedriger Turm angebaut ist. Ein Maurermeister Fritze soll diese Bauten 1873 errichtet haben, aber warum im Blockinnern?

Die das Karree westlich begrenzende Straße Am Fenn hilft, das Rätsel aufzulösen. Sie ist nach einem dreieckigen Fenn benannt, das in den um 1900 erbauten Teltowkanal einbezogen wurde. Im Baujahr 1873 gab es die am Karree südlich und westlich vorbeiführenden Straßen noch nicht, die Fachwerkhäuser standen im freien Feld an dem Fenn und nicht innerhalb eines Straßenblocks.


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Der an den Turm angrenzende kleine Bau soll ein Pferdestall gewesen sein, wird uns gesagt, ist jetzt eine Wohnung. Der Turmbau erinnert an ein Taubenhaus, weist aber keine Merkmale davon auf. Das Wohnhaus wird von sozialen Trägern von einer betreuten Wohngemeinschaft genutzt.

"Millionen-Block"
Eine 200 Meter lange Wohnanlage liegt zwischen Albrechtstraße und Borstellstraße direkt am Teltowkanal. "Genießen Sie die Abendsonne und beobachten die vorbeifahrenden Schiffe", kommentiert die Hausverwaltung das Wohnen in dem leicht gekrümmten Wohnblock, der in den 1920er Jahren erbaut worden ist. Über den jüdischen Architekten Rudolf Maté ist wenig bekannt, wie andere jüdische Kollegen wurde er in der Nazizeit buchstäblich "totgeschwiegen". Er hat diese Wohnanlage im Stil des Neuen Bauens errichtet: funktional, mit klaren Linien, reduziert auf das Wesentliche, für menschengerechtes Wohnen. Das Baudenkmal wird als "Millionen-Block" bezeichnet, was sich auf die Baukosten beziehen könnte, aber im Widerspruch zu den Zielen des Neuen Bauens steht.


Unser Flaniermahl nehmen wir mit Lokalkolorit in einem Café neben der Schule ein. Im Vorgarten ist vom heutigen Aprilwetter ein Stuhl mit einer Pfütze bedeckt, den die Flaneurin an meiner Seite übersieht und den nassen Hosenboden als wenig gelungenen Abschluss beklagt. Wer will schon im Stehen Kaffee trinken, weil die Hose nass ist?
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Unsere Route:
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Mäandernde Fußgängerbrücke aus Stahl und Beton
Glück im Winkel