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Kampf des Löwen gegen die Schlange


Stadtteil: Tiergarten
Bereich: Moabit
Stadtplanaufruf: Berlin, Wilsnacker Straße
Datum: 17. Dezember 2012


"Korf erfindet eine Mittagszeitung /
welche, wenn man sie gelesen hat / ist man satt".

Da ist ein Bruch in diesem Satz, als hätte jemand sprachlich mitten im Galopp das Pferd gewechselt. Christian Morgenstern entlockt uns damit ein Schmunzeln. Satt sind auch Eltern, wenn der Nachwuchs am Frühstückstisch sagt: "Kann ich mal die Milch", als lebender Vorwurf der Eltern steht dann das Wort HABEN im Raum. Das Kind wird verstanden - auch ohne "haben" - aber das Sprachbewusstsein bleibt gestört. Manche Eltern reichen die Milch erst, wenn das Wort "haben" fällt. "So muss Technik" dröhnt uns der Elektrohändler Saturn voll, das Unerfüllte im Satz soll uns stutzen lassen - die Werbung verschafft der Marke einen kurzen Augenblick unserer Aufmerksamkeit. Mit "Moabit ist Beste" will der Ortsteil sein Image verbessern ("Moabit soll hip werden"), der Spruch lässt uns aber einigermaßen hilflos zurück. Ist Moabit mit Abstand die Beste, ligaweit die Beste, ist der Ortsteil überhaupt "die" Beste? Ist es die beste Freundin, die beste Chance, die beste Mannschaft, die beste Medizin, die beste Performance, die beste Unterhaltung, die beste Darstellerin, die beste Story?

Wir wissen es nicht und besuchen die Insel Moabit, um mehr zu erfahren. Ja, Insel, Moabit ist rundherum von Wasser umgeben. Die Spree und drei Kanäle trennen den Ortsteil vom umgebenden "Festland", gleichzeitig verbinden mehr als 20 Brücken beide miteinander. Wir haben uns den östlichen Teil der Straße Alt-Moabit zwischen dem U-Bahnhof Turmstraße und der Moltkebrücke für unseren Spaziergang ausgesucht. Von hier bis zur Spree herunter erstreckte sich 1716 die von den Hugenotten gegründete Kolonie Moabit. Zwischen Strom- und Kirchstraße siedelte sich später Industrie an. Die Sprengung der Kampffmeyer-Mühlen an der Stromstraße habe ich 1987 als fotografierender Augenzeuge beobachtet, danach siedelten sich hier Dienstleistungsunternehmen an. Östlicher Nachbar war die Meierei Bolle, in deren Hof das Innenministerium als Mieter in einem Gebäude des Pizzakönigs Freiberger residiert. Die Werftstraße verweist mit ihrem Namen auf eine frühere Schiffswerft an der Spree.

Die Nordseite der Straße Alt-Moabit wird in unserem Bereich von einem ausgedehnten Kirchengelände begleitet, der Baugruppe der St.Johannis-Kirche. Sie gehört zu den vier evangelischen Vorstadtkirchen, die der preußische König Friedrich Wilhelm III. in den 1830er Jahren bei Schinkel in Auftrag gegeben hatte, damit Gotteshäuser nahe bei den Menschen errichtet werden (--> 1). Preisgünstige und schmucklose Zweckbauten für die proletarische Bevölkerung hatte der König verlangt ("Bauen Sie billig, Schinkel!"), trotzdem entstanden individuelle Kirchen mit unterschiedlichen Fensterformen, Vorhallen und Fassaden, verputzt oder mit sichtbarem Klinker. Die St.Johannis-Kirche wurde später um Schule, Pfarrhaus, Arkaden und Campanile erweitert. Man fühlt sich nach Italien versetzt, wird an venezianische Vorbilder und Bauten Palladios erinnert. Die Franziskaner-Kirche in Mitte war nach Bombenschäden als Ruine gesichert worden, die ebenfalls zerbombte Johanniskirche wurde wieder aufgebaut und mit den erhalten gebliebenen sakralen Gegenständen der Klosterkirche ausgestattet.

Hinter der Kirche befindet sich der Friedhof Wilsnacker Straße, ein Notfriedhof, auf dem bei Kriegsende 1945 mehr als 300 meist namenlose Opfer des Krieges beigesetzt wurden. Auch Alfred Haushofer, bekannt durch seine in der Haft verfassten "Moabiter Sonette", hat hier sein Grab (--> 2). Der umtriebige Gründer des privaten Mauer-Museums am Checkpoint Charlie, Rainer Hildebrandt, wollte hier neben Haushofer beerdigt werden, mit dem er im Nazi-Gefängnis gesessen hatte. Einer der vielen Ablehnungsgründe, die der ebenso umtriebigen Witwe Hildebrandts genannt wurde, soll gewesen sein: Nach dem Gräbergesetz hätten die Toten ein dauerndes Ruherecht und dürften nicht durch eine weitere Beerdigungen gestört werden. Skurril, dann könnte man auf einem Friedhof immer nur einen Toten zur Ruhe betten. Weitere Begründung: Es sei nicht sicher, dass Haushofer hier beerdigt sei. So kann man sich mit zu vielen Argumenten um Kopf und Kragen reden, es hätte gereicht, darauf hinzuweisen, dass der Friedhof seit 1952 geschlossen ist.

Der zweite Gebäudekomplex, der die Nordseite der Straße Alt-Moabit flankiert, gehört der Justiz. Bereits an der Wilsnacker Straße drücken Nachkriegsbauten der Justiz Kirche und Friedhof optisch an den Rand, auch ein Schulgebäude von 1890 wurde aufgesogen. In einer Großplastik kämpft ein Löwe gegen eine sich aufbäumende Schlange, die bereits ein Löwenjunges im Würgegriff hat. So sah der Bildhauer Albert Wolff den Kampf der Justiz gegen Lüge und Verbrechen. Alt-Moabit Ecke Rathenower Straße schließt eine hohe Mauer das Untersuchungsgefängnis Moabit ein. Wie beim Zellengefängnis (--> 3) sind Zellentrakte des Männergefängnisses sternförmig um einen Beobachtungsturm gruppiert, von dem aus alle Gebäudeteile zentral beaufsichtigt werden können. Dieses "Panoptikums-Prinzip" aus dem 19.Jahrhundert hat sich hier bis heute erhalten, das Frauengefängnis ist moderner.

Die Südseite von Alt-Moabit und die Querstraßen zur Spree herunter gehören zu dem gutbürgerlichen Wohnviertel, das um 1900 entstanden ist. Norddeutsche Backsteingotik in fast sakraler Ausprägung, durchsetzt mit Jugendstilelementen, zeigt sich am Haus Thomasiusstraße 4. Vom Giebel des Nebenhauses Nr.5 erschreckt die Fratze eines Fauns die Spaziergänger, das Eingangsportal flankieren zwei mächtige Pylonen. Die Skulpturen über dem Portal von Alt-Moabit 110 sind dagegen eher Neuschöpfungen unserer Zeit: eine Barbusige hält sich gegenüber einem Panflötenspieler die Ohren zu, ihr kokettes Lächeln zeigt die Ambivalenz von Verehrung und Störung, denen sie ausgesetzt ist. Eine Szene, die mich beim Vorbeifahren im 245er Bus-Oberdeck immer wieder zum Schmunzeln bringt.

Kurz vor dem S-Bahn-Viadukt steht in Alt-Moabit 137 ein (Neo-)Renaissance-Palast aus den 1880er Jahren. Ein Wohnhaus mit Sechs- bis Siebenzimmerwohnungen verbirgt sich hinter der Fassade mit wuchtigen Quadern und Wandflächen, die streifenweise abwechselnd Putz und Backstein nach außen zeigen. Hinter dem Bahnviadukt versucht das Fachwerkhaus "Paris-Moskau", sich gegen die Bagger und die Großbaustelle des neuen Innenministeriums zu behaupten, von der es an drei Seiten umgeben ist. Hier baut der Bund auf Vorrat, die in Bonn verbliebene Abteilung des Ministeriums würde hier auch noch Platz finden, sollte man sie nach Berlin holen. Honi soit qui mal y pense - ein Schelm oder Schuft, wer schlecht darüber denkt, natürlich hält man sich an das Bonn-Berlin-Abkommen, wonach die Abteilung in Bonn verbleiben wird. Oder?

Vor dem alten Innenministerium - dem Freiberger-Bau - steht die Skulptur eines Mannes mit Aktentasche. Es regnet, er hat einen Tropfen an der Nase. Mit fällt dazu der Satz mit "einfältig" ein: "Du hast zwei Tropfen an die Nase, einfältig gleich runter". Der Mann hat einen leichten Knick im Rücken. Geht er gebeugt, weil er hier arbeitet oder weil er Bittsteller im Ministerium ist? Um einen Lobbyisten wird es sich jedenfalls nicht handeln, die nehmen sich ja manchmal mehr heraus als ein Minister selbst. Wenn die Statue zum Ministerium gehört, wird sie wohl auch mit umziehen an den Neubau?

Am Abend beschließen wir das Flanierjahr in einem Lokal in Schöneberg, das uns trotz des kitschigen Namens "Romantica" gefällt. Freundlich und aufmerksam bedient lassen wir uns Essen und Wein schmecken und denken an neue Ziele im kommenden Jahr, in Berlin und anderswo, im Geiste oder zu Fuß.

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(1) Bilder der anderen 3 Schinkelschen Vorstadtkirchen in diesen Berichten:
a) St.Elisabeth, Invalidenstraße: Invaliden und Veteranen
b) (Alte) Nazarethkirche: Zwei Eimer Wasser holen
c) St.Paulskirche: Gesund trotz vieler Apotheken
(2) Alfred Haushofer und die Moabiter Sonette: Haushofer, Albrecht
(3) Zellengefängnis: Im Dreieck springen


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... Es folgen zwei Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Weil der Architekt es schön fand
Virtuelle Seidenstraße