Bezirke
  Straßenverzeichnis     Personen     Themen     Aktuell     Forum  
Charlottenburg-Wilmersdorf
Friedrichshain-Kreuzberg
Lichtenberg
Marzahn-Hellersdorf
Mitte
Die alte Mitte
Regierungsviertel, Hauptbahnhof und mehr
Tiergarten
Wedding
Neukölln
Pankow
Reinickendorf
Spandau
Steglitz-Zehlendorf
Tempelhof-Schöneberg
Treptow-Köpenick
Allgemein:
Startseite
Ich bin NEU hier
Hinweise
Kontakt
Impressum
Datenschutz
Links
SUCHEN
Sitemap

Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund


Stadtteil: Mitte
Bereich: Charité-Gelände
Stadtplanaufruf: Berlin, Charitéstraße
Datum: 19. Juni 2024
Bericht Nr.: 841

Zwischen der Schumannstraße im Süden und der Invalidenstraße im Norden erstreckt sich entlang der Luisenstraße das Klinikgelände der Charité. Auf der gegenüberliegenden Seite der Luisenstraße hat der Campus Nord der Humboldt-Universität das Gelände der ehemaligen Tierarzneischule übernommen. Das historische Zugangsgebäude zur Charité mit dem Rundturm steht im Süden an der Schumannstraße. Heute befindet sich der Zugang zur Charité an der Luisenstraße gegenüber dem Bettenhaus.

Pesthaus
Eine Pestepedemie, die sich von Osten der Stadt näherte, veranlasste 1709 König Friedrich I., vor den Toren der Stadt ein Pesthaus zur Isolierung der Kranken zu bauen. Als die Pestwelle wie durch ein Wunder vor Berlin stehen blieb, durchlebte der Standort eine Vielzahl von Bestimmungswechseln. Das Haus wurde Armenhospiz, Arbeitshaus für Bettler, Entbindungshaus für ledige Mütter, Militärlazarett, Ausbildungsstätte für Ärzte. Bis schließlich die Universitätskliniken für die Krankenversorgung und Forschung dort zentriert wurden. Im Süden an der Charitéstraße gab anfangs es noch die Zollmauer aus Palisaden. Im Norden begrenzte die Akzisemauer das Klinikgelände, sie wurde von Schinkel zur Hannoverschen Straße verlegt, um das Gelände zu vergrößern.

In mehreren Bauphasen wurde das Klinikgelände komplett neu bebaut, die Altbauten ganz überwiegend abgerissen. Die "Alte Charité" wurde 1785-1800 erbaut, es folgte die "Neue Charité" 1831-34. Und schließlich von 1897 bis 1917 die Errichtung der Klinikbauten aus Backstein, die trotz einiger Neubauten bis heute das Gesicht der Charité prägen. Freiräume und Grünanlagen wurden als Erholungsgärten geplant, ein umfangreiches Wegenetz ermöglichte den Aufenthalt der Kranken im Freien. Nicht nur die Schönheit der Anlagen war das Ziel, sondern auch ihre therapeutischen und psychologischen Wirkungen.

Alle Wesen leben vom Lichte (Albrecht von Graefe)
Unser heutiges Ziel sind die im Charitégelände aufgestellten Denkmale - vor allem Büsten - von herausragenden Medizinern und anderen Wissenschaftlern, die an der Charité gewirkt haben. 1882 wurde für den Augenarzt Albrecht von Graefe das erste Denkmal für einen Gelehrten der Charité aufgestellt.

In der Mitte des dreiteiligen Monuments steht in einem Rundbogen - überdacht von einem Tympanon - das überlebensgroßen, bronzene Standbild des Gelehrten. In der erhobenen Rechten hält er einen Augenspiegel, links des Standbilds sind Kranke abgebildet, rechts Geheilte. Aus Schillers "Wilhelm Tell" wird die "edle Himmelsgabe des Augenlichts" zitiert, "alle Wesen leben vom Lichte".


mit KLICK vergrößern

Das Ringen des Arztes mit der Krankheit (Rudolf Virchow)
Das Graefe-Denkmal steht außerhalb des Charitégeländes an der Schumannstraße, ursprünglich stand es im Klinikterrain. Eine Ecke weiter am Karlplatz ringt oberhalb eines säulenumstandenen Ehrenmals ein nackter Riese mit einem Ungeheuer. Die symbolische Darstellung zeigt das Ringen des Arztes mit der Krankheit. Das monumentale Denkmal ehrt Rudolf Virchow, dessen Portrait auf der Frontseite eingelassen ist.

Virchow begründete die moderne Pathologie und war erster Direktor des pathologischen Instituts der Charité. "Krankheiten basieren auf Störungen der Körperzellen" war seine Erkenntnis, und "Jede Zelle kann nur aus einer anderen Zelle entstehen (Omnis cellula e cellula)", nicht aus einem Urschleim, wie vorher vermutet.

Er verstand die Medizin als eine soziale Wissenschaft, die zur Verbesserung der gesellschaftlichen Verhältnisse beitragen könne. Als Sozialreformer mit naturwissenschaftlicher Ausrichtung und als Hygieniker gab er den Anstoß zur Einrichtung von Markthallen und einem hygienischen Schlachthof, er war beteiligt am Ausbau der Trinkwasserversorgung und der Kanalisation, an der Einrichtung von Krankenpflegeschulen und kommunalen Krankenhäusern.

Seine Überzeugungen - "Bildung, Wohlstand und Freiheit sind die einzigen Garanten für die dauerhafte Gesundheit eines Volkes" - vertrat er auch als Politiker in der Stadtverordnetenversammlung und schließlich im Reichstag. Mit dem Reichskanzler Bismarck geriet er in der Sache so aneinander, dass dieser ihn zum Duell forderte. Unerhört: Virchow lehnte ein Duell ab, "es sei keine zeitgemäße Art der Diskussion".

Virchow prägte Begriffe wie Thrombose, Leukämie. Er befand, "Ein bisschen Kranksein ist manchmal ganz gesund" und spornte seine Mitarbeiter an: "Es wird ja fleißig gearbeitet und viel mikroskopiert, aber es müsste mal wieder einer einen gescheiten Gedanken haben". Mit 81 Jahren starb er an den Folgen der Verletzungen, die er beim Absprung von einer fahrenden Straßenbahn zugezogen hatte.

Friedrich Althoff
Die Büsten vor den Klinikgebäuden erinnern an herausragende Mediziner und anderer Wissenschaftler, die an der Charité gewirkt haben. Vom Südeingang hereinkommend findet man vor dem Verwaltungsgebäude mit dem prägnanten Rundturm die Büste von Ministerialdirektor Friedrich Althoff, der als Leiter der Baukommission die Neubebauung des Charité-Geländes gesteuert hat. Die planmäßig errichtete Anlage umfasste 16 Kliniken und andere Bauten. Althoff war ein "deutscher Verwaltungsdämon", der sich auch in Fakultätsbelange eingemischt hat, aber trotzdem noch zu Lebzeiten mit einem Denkmal geehrt wurde.


mit KLICK vergrößern

Friedrich Kraus
Mit den Büsten wurde nicht immer glimpflich umgegangen. Der österreichische Internist Friedrich Kraus hatte seine Klinik zu einem internationalen Zentrum auf dem Gebiet der inneren Medizin aufgebaut. Er war ein Vordenker der psychosomatischen Medizin. Seiner 1927 enthüllten Büste wurde 1991 der Kopf abgeschlagen und entwendet, als sie wegen Bauarbeiten auf einem Materialplatz zwischengelagert war. Jahre später fand ein aufmerksamer Bürger den Kopf auf einem Schrottplatz und recherchierte nach dem eingravierten Künstlernamen, so bekam Kraus seinen Kopf zurück.

Charité im Nationalsozialismus
Durch eine gezielte Aktion wurden in der Nazizeit sogenannte "Juden-Büsten" demontiert. Vorausgegangen war der Hinweis eines Klinikdirektors an den Verwaltungsdirektor der Charité: "Es besteht das Gerücht, dass Henoch, dessen Büste vor unserer Klinik aufgestellt ist, nicht arisch gewesen sei. Ich glaube, dass es gut wäre, wenn Sie offiziell durch das Rasseamt prüfen ließen, ob Henoch Jude gewesen ist. Unter diesen Umständen werden wir das Denkmal entfernen müssen". Daraufhin wurden 1942 vier Büsten in einer Nacht- und Nebelaktion abgenommen und vernichtet.

Remember
Ein neu geschaffener Gedenkort "Wissenschaft in Verantwortung" setzt sich mit der Rolle der Charité in der NS-Zeit auseinander und vergegenwärtigt Spuren dieser Vergangenheit, bringt so die schweigenden Erinnerungsorte auf dem Campus Charité Mitte zum Sprechen. Gedenkskulpturen (Stelen) an acht historischen Orten verbinden sich zu dem Erinnerungsweg "REMEMBER".


mit KLICK vergrößern

Prof. Dr. Rahel Hirsch
Seit mehr als hundert Jahren standen die Portraitbüsten der berühmtesten Charité-Ärzte im Außengelände, als es zwei Assistenzärztinnen auffiel, dass hier nur Männer geehrt werden, keine Frauen. Diese Herabsetzung ist symptomatisch, sie hat auch die erste Medizin-Professorin Deutschlands, Rahel Hirsch, das ganze Leben lang begleitet. Die Tochter eines Rabbiners konnte erst 1898 mit 28 Jahren ihr Medizinstudium aufnehmen, vorher hatte sie als Pädagogin gearbeitet. Für das Studium musste sie in die Schweiz gehen, in Deutschland wurde sie als Frau nicht zugelassen.

Als sie nach Berlin zurückkehrte, kam ihr der Zufall zu Hilfe, um an der Charité anzufangen. Friedrich Kraus - dessen kopflose Büste ich oben geschildert hatte - leitete die zweite medizinische Klinik. Er war vorher Mitarbeiter beim Doktorvater von Rahel Hirsch und förderte jetzt ihre Forschungsarbeit an der Charité. Sie fokussierte ganz auf Wissenschaft und Forschung, publizierte regelmäßig ihre Ergebnisse, setzte sich dafür ein, dass Frauen Sport treiben.

Ein Streiflicht: Auch vom körperschädigenden Korsett wollte sie die Frauen abbringen, "wir brauchen Reformkleidung", war ihre Devise.

Friedrich Kraus übergab ihr 1908 die Leitung der Poliklinik, die sie allerdings wieder verlor, als Mediziner aus dem Ersten Weltkrieg zurückkehrten. Als Anerkennung für ihre Forschungsleistungen erhielt sie 1913 als erste Medizinerin Deutschlands den Professorentitel. Das war aber nur ein symbolischer Akt, sie bekam weder ein Gehalt noch einen Lehrstuhl und auch keine Forschungsunterstützung.


mit KLICK vergrößern

1919 verließ sie die Charité, machte sich am Kurfürstendamm mit einer eigenen Praxis erfolgreich selbstständig. In der Nazizeit wurde ihr als Jüdin die Behandlung "arischer" Patienten verboten. 1938 emigrierte sie nach London. Das englische Medizin-Examen nachzuholen, war ihr mit 68 Jahren nicht mehr möglich, sie arbeitete als Laborassistentin. Rahel Hirsch starb in einer Londoner Nervenklinik, die sie wegen Depressionen und Verfolgungsängsten aufsuchen musste.

Medizinhistorisches Museum
Im Norden des Charitégeländes werden im Berliner Medizinhistorischen Museum 750 pathologische Präparate aufbewahrt, die auf einer Sammlung Rudolf Virchows aufbauen. Virchow hatte darüber hinaus in großer Zahl Schädel und Skelettreste gesammelt und für seine anthropologischen Forschungen verwendet. Kritiker nennen das die "wissenschaftliche Etablierung der Rassenkunde". Er ließ sich von Carl Hagenbeck von dessen Expeditionen Schädel liefern. Und er führte lebende Menschen (Zulu-Kaffer) vor, "zwischen Völkerschau und akademischer Wissenschaft gab es keine Grenzen".

In der Ausstellung, die im Museum zugänglich ist, wird gerade "Das Gehirn in Wissenschaft und Kunst" gezeigt. Im Eingangsbereich kann man in einer Vitrine Gallensteine ansehen, während draußen vom Spandauer Schifffahrtskanal Lastkähne in den Humboldthafen navigieren.


mit KLICK vergrößern

--------------------------------------------------------------


An den Rand gedrängt