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Der Prinz vom Hinterhof


Stadtteil: Mitte
Bereich: Spandauer Vorstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Linienstraße
Datum: 3. November 2008

In einem Berliner Hinterhof lebte vor dem 1.Weltkrieg der abgedankte "Kaiserliche Prinz und Erzherzog Leopold Ferdinand von Österreich, Königliche Prinz von Ungarn und Böhmen, Großherzog von Toscana und Ritter des Ordens vom Goldenen Vlies", der mit dem hochherrschaftlichen Leben nicht zurecht gekommen war, Heimat und Frau verlassen hatte um nach Zwischenstationen in verschiedenen anderen Orten in Berlin als Leopold Wölfling sesshaft zu werden. Mit seiner 34 Jahre jüngeren letzten Frau Klara, der Tochter eines Eisenbahners, lebte er in einem Hinterhaus am Mehringdamm in einer kleinen, dunklen Wohnung mit Ausblick auf ein schäbiges Fabrikgebäude. Er schrieb hier für die Morgenpost Artikel wie "Habsburger Kaiserinnen, die ich kannte". Es wird berichtet, dass er auch In dieser Wohnung in Klaras Armen starb. Beerdigt ist er auf einem Friedhof vor dem Halleschen Tor (1).

Berliner Hinterhäuser haben nur selten so hohe Herrschaften beherbergt. Ganz überwiegend waren es Fabrikarbeiter und ihre Familien, die die Hinterhäuser bewohnten. Durch die Industrialisierung war die Residenzstadt Berlin im 19.Jahrhundert dramatisch gewachsen. Die Landbevölkerung drängte wegen der neuen Fabriken in die Stadt. 1861 wurde durch Eingemeindungen die Stadtfläche um 70 % vergrößert, Berlin hatte danach 500.000 Einwohner. Bereits 16 Jahre später wurde die Millionengrenze überschritten, die Einwohnerzahl hatte sich in diesem Zeitraum verdoppelt. Mit der Reichsgründung 1871 wurde der Zustrom von Zuwanderern nochmals angeheizt.

Man rechnete mit einer weiteren Verdopplung der Einwohnerzahl innerhalb weniger Jahrzehnte (1905 waren es dann tatsächlich 2 Mio. Bewohner). Es gab einen Entwurf für die Stadterweiterung mit einem Ring von Straßen (Hobrecht-Plan), aber keine Bauordnung, so dass die Mietspekulation sich frei entfalten konnte. Die Berliner Mietskasernen entstanden, in denen die Menschen dicht zusammengedrängt lebten, es war die höchste Bevölkerungsdichte aller europäischen Metropolen. Die einzige bauliche Beschränkung gab es durch eine Polizeivorschrift, nach der der Innenhof eines Miethauses mindestens so groß sein musste, dass eine pferdegezogene Feuerwehrspritze darin wenden konnten nämlich 5,34 × 5,34 Meter.

Die Mietskasernen bestanden aus mehreren hintereinander geschachtelten Höfen. In "Stube und Küche" hausten Familien mit mehreren Kindern. Um die Mieten bezahlen zu können, wurden Räume untervermietet oder Betten an Schlafgänger vermietet. Einen Schlafplatz teilten sich mehrere Personen „im Schichtbetrieb“. Nicht nur die Wohnungen waren überfüllt, auch in den Treppenhäusern, Kellern, Dachböden und Nischen hausten Menschen. Sanitäre Anlagen gab es nicht in den Wohnungen, sondern Gemeinschaftsklos auf den Treppenpodesten oder in Häuschen auf den Höfen.

Die im Hobrecht-Plan innerhalb der Wohnblocks vorgesehenen Erschließungsstraßen bzw. -wege fehlten, stattdessen wurden oft zwei Höfe zusammengelegt, nur durch eine Mauer getrennt. Die heute erhaltenen Vorderhäuser und Höfe können durchaus unterschiedliche Baujahre haben, weil z.B. niedrige Vorderhäuser abgerissen wurden, um sie später durch neue Häuser mit der zulässigen "Berliner Traufhöhe" von 22 Metern zu ersetzen. Die Seitenflügel, Quergebäude und Remisen wurden auch für Gewerbezwecke genutzt. Drucker, Klempner, Stanzer, Kammmacher, Drechsler, Schuster, Schneider hatten hier ihre Werkstätten, kleine Industriebetriebe arbeiteten in den Gebäuden. Durch die Bauordnung von 1925 wurden dann Seitenflügel und Quergebäude verboten, es kam die Zeit der Reformsiedlungen und der Wohnungsbaugenossenschaften.

Wir sind zu einem Rundgang in der Spandauer Vorstadt aufgebrochen, um Höfe in der Oranienburger Straße (2), der Linienstraße und der Torstraße zu erkunden. Die ältesten Höfe stammen hier noch aus dem 18.Jahrhundert, das älteste Gebäude in der Großen Hamburger Straße 19a von 1691. Die Torstraße wurde ab 1860 bebaut, nachdem die Stadtmauer aufgegeben und abgerissen worden war.

Die Dunkelheit gibt den Höfen Gelegenheit, sich ins rechte Licht zusetzen. In manchen Höfen kann man sich (wenn das Wetter es zulässt) niederlassen, um hier zu verweilen oder einen Kaffee oder Wein zu bestellen, es präsentieren sich Läden, Galerien. Architekten und andere Kreative haben die Höfe für sich entdeckt und gestatten einen Blick in ihre Ateliers, eine holländische Kultur des Einblicks in das wirkliche Leben innerhalb der Räume hat sich in der Berliner Mitte entwickelt.

In den Hofdurchgängen gibt es nicht nur die Hinweise auf hier angesiedelte Ateliers und Betriebe, sondern auch literarische Texte zu lesen wie "Sie schließt die Haustür hinter sich, schiebt die Kapuze über den Kopf und betritt den Tag" oder "Er greift nach seinen sieben Sachen und beendet seine Träume vor der dunklen Wärme seines Kaffees".

Die Heckmann-Höfe gehen von der Oranienburger Straße 32 bis zur Auguststraße durch. Bei "Hut up" findet man vielleicht die passende Kopfbekleidung zum Cocktailkleid, das ein Hofladen mit Namen "Sterling Gold" nebenan verkauft. Rechtsanwälte beraten im Ausländerrecht und ein Coiffeur zum typäquivalenten Stil. Für die Pause kann man sich zwischen "Cafe Orange" und "Cafe Neu" entscheiden.

Im Kunsthof an der Oranienburger Straße 27 gibt es eine denkmalgerecht restaurierte gusseisernen Treppe aus dem Jahre 1856, die sich leider bei unserem Rundgang unseren Blicken verschließt. Dafür lässt sich hier im Hof und am Haus "bürgerliches Leben in der Tradition der Schinkel-Zeit anschaulich nachvollziehen", die Stadtentwicklungsverwaltung lobt die "spätklassizistische Wohnhausfassade mit klarer Reihung der Fenster", "den gusseisernen Balkon, Friesbänder, Gesimse, Drempelfenster mit Zinkgussrosetten" und die "die Rundbogenarchitektur der Hoffassaden von 1860 mit Merkmalen des italienischen Villenstils in Berlin".

Bis 1990 gab es in der Linienstraße 98 ein Leihhaus, das auf das 1784 gegründete erste "Königliche Leih-Amt", später "Leihamt der Stadtgemeinde Berlin" zurückging. Die alten Beschriftungen sind noch über den Hauseingängen zu finden. Die Bebauung, die bis zur Torstraße durchgeht, lag früher direkt an der Stadt- und Zollmauer. Heute sind hier auf den Höfen neben Restaurants ("Kyo", "Pfandleihe") z.B. ein Online Handel für Abendgarderobe, ein Ableger des Bröhan-Museums, eine Agentur für Strategie-Entwicklung und Galerien zu finden. In der Galerie Son gab es im letzten Jahr eine Ausstellung mit dem provokanten Titel "Schlitzaugen", der Beitrag eines Koreaners machte klar „Schlitzaugen sehen die Welt anders“.

Wir lassen uns weiter treiben, schauen neugierig in jeden Hof, der sich von der Straße aus öffnet. Es ist eine Gegend, die sich in der Nachwendezeit längst gewandelt hat. Der Charme des Umbruchs, das Unvollkommene, Unverputzte, Bröckelnde, das Laufen über Holzbohlen durch einen halbfertigen Vorderhaus-Umbau in eine Galerie im Hinterhaus ist vorbei, Treffend beschreiben die wahrscheinlich letzten Hausbesetzer in einem Blog ihre Demonstration: "Von den Balkonen aus prosteten frisch eingezogene Happy-Yuppie-Familien den lustigen Demonstrierenden auf der Straße zu. Irgendwie fühlte es sich anachronistisch an, überhaupt in dieser Gegend zu demonstrieren, die bereits in einer anderen Zeit angekommen ist und längst in akut fortgeschrittener Verwestdeutschung und Grünbürgerlichkeit und schal hipper (Ex-) Hipness danieder liegt." Die Zukunft hat hier begonnen, es ist chic und hip und Lifestyle, aber auch einheitlich in seiner Unterschiedlichkeit, es funktioniert und hat keine Ecken und Kanten mehr.

Der Thailänder "Good Times" an der Chaussee- Ecke Torstraße ist in diesem Jahr neu designed worden. Es ist nicht sehr gemütlich hier, sondern etwas kühl und weiterhin eng, aber das Essen ist gut und die Gäste kommen und gehen.

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(1) Friedhöfe vor dem Halleschen Tor: Lass mich vereinsamt weinen gehn
(2) Mehr über die Oranienburger Straße: Oranienburger Straße

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Der Berg ruft
Feuchte Augen