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Neue Urbanität am Plattenbau


Stadtbezirk: Marzahn-Hellersdorf
Bereich: Marzahn
Stadtplanaufruf: Berlin, Alt-Marzahn
Datum: 25. Juli 2011

Wie nähert man sich der größten Siedlung Europas, 7 km lang, 3 km breit, mit 62.000 Wohnungen für 165.000 Bewohner, also einer Großstadt in der Großstadt? Das Bezirksamt Marzahn-Hellersdorf hat dafür eine pfiffige Idee entwickelt, die die gesichtslosen Gebäuderiegel vermeidet: Auf der Wanderroute "Neue Urbanität" führt sie mitten hinein in die Plattenbausiedlungen, dort wo es urban ist, an die Marzahner Promenade. Das Einkaufszentrum "Eastgate" (das größte im Osten der Stadt), das Freizeitzentrum "Le Prom" mit Kino, Bowling, Fitnesscenter, Gastronomie, das Freizeitzentrum mit Festsaal, Foyer, Schwimmbad und die Galerie "M" reihen sich an dieser Promenade auf. Dann kommt man durch das hochglanzpolierte Dorf Marzahn mit Windmühle zu dem ersten Nachwende-Neubaugebiet Landsberger Tor. Für uns endet hier vor den Gärten der Welt (Erholungspark Marzahn) der Spaziergang, aber das Bezirksamt will Hellersdorf auch noch zeigen und bietet an, den Weg bis zum gleichnamigen U-Bahnhof fortzusetzen.

Woran denken Sie bei "Marzahn"? An die Plattenbauten, die Gärten der Welt, das Unfallkrankenhaus oder an "Cindy aus Marzahn"? Cindy heißt weder Cindy, noch hat sie jemals in Marzahn gelebt, die dicke Selbstdarstellerin heißt Ilka und kommt aus Luckenwalde. Ihre Auftritte werden dem Fach "Comedy" zugeordnet, in dem Heinz Erhardt, Rudi Carrell, Dieter Hallervorden und Loriot zu Hause sind. „We are the Girls from the Plattenbau“ singt sie, als “Plattenbau-Prinzessin“ hat sie einen Comedy-Preis gewonnen und gehört jetzt auch zu den Botschaftern der Stadtmarketingkampagne "be Berlin". Ja, man kann sich seine Botschafter eben nicht aussuchen.

Die Plattenbauten in Marzahn entstanden ab 1977, um gegen die Wohnungsnot nach dem Zweiten Weltkrieg anzugehen. In Ost und West folgte man nach dem Krieg der Idee von "Wohnzellen" für mehrere tausend Bewohner, neues funktionales Bauen war angesagt, um die damals so verhasste Mietskasernenstadt zu überwinden. Allerdings hinkte die DDR dem Westen hinterher: das Märkische Viertel und die Gropiusstadt in West-Berlin, in den 1960er Jahren begonnen, waren bereits fertig und bewohnt, als man in Marzahn anfing zu planen und bauen. Die DDR entwickelte den Großplattenbau mit in Fabriken vorgefertigten Teilen, deren Montage ausreichend Platz benötigte. Da man diesen Platz im Stadtgrundriss der Innenstadt nicht fand, ging man an den Stadtrand. In mehreren Abschnitten wurde Marzahn von Süden nach Norden bebaut, beginnend an der Marchwitzastraße in Springpfuhl. Die vorherrschend elfgeschossigen Plattenbauten wurden bis in die 1980er Jahre errichtet. Gummistiefel gehörten zur Standardausrüstung der Bewohner, in das Wohnumfeld wurde oft nicht mit der notwendigen Aufmerksamkeit investiert. Die Bilder, die das Bundesarchiv von der DDR-Presseagentur ADN übernommen hat, zeigen neben gesichtslosen Gebäuderiegeln aber auch Ansätze von Urbanität, insbesondere in der Mitte der Siedlung. 1977 wurde die erste Schule fertig, 1978 Krippe und Kindergarten, 1979 die Poliklinik, 1980 das Kino, 1983 die Volkshochschule. Bereits 1976 fuhr die erste S-Bahn nach Marzahn, man hatte nur die seit 1898 vorhandene Strecke der Wriezener Bahn elektrifizieren müssen.

Die Siedlung erstreckte sich über die Stadtgrenze in das Umland hinein. Ein Problem wegen des Viermächte-Status' der Stadt Berlin entstand daraus aber nicht. Die Westalliierten hatten bereits die Bezirksneugliederung von Marzahn stillschweigend geschehen lassen, sie wehrten sich auch nicht gegen die faktische Ausdehnung des Ost-Berliner Stadtgebiets. Bei der Wiedervereinigung wurde dann offiziell die Stadt um dieses Stück größer.

Nach der Wende sind in Marzahn bisher rund 80 Prozent der Bauten modernisiert worden, ein Erfolg des "Stadtumbaus Ost “. Der Wohnungsbestand wird von mehreren Immobilienunternehmen verwaltet (u.a. degewo Marzahn = 18.000 Wohnungen, allod = 4.600 Wohnungen) und Genossenschaften (u.a. Friedenshort = 5.000 Wohnungen, Marzahner Tor = 4.466 Wohnungen, Erste Marzahner = 2.472 Wohnungen, horizont = 1400 Wohnungen, Felix = 670 Wohnungen). Selbstironisch feiert man hier die "Marzahner Platten Spiele", bei denen Trabbis natürlich nicht fehlen dürfen oder bei der degewo das „PlattenFest". Das Durchschnittsalter der Siedlungsbewohner beträgt 38 Jahre, immerhin sind ein Drittel Kinder oder Jugendliche. Nirgendwo anders in Berlin leben wie hier mit durchschnittlich mehr als 2 Personen so viele Menschen in einem Haushalt, mit durchschnittlich 32 qm pro Bewohner haben sie aber die geringste Fläche zur Verfügung.

Das alte Dorf Marzahn ist im Zusammenhang mit dem Plattenbauprojekt von der DDR herausgeputzt worden, bis es fast unnatürlich funkelt. Es gibt hier einen "Erlebnispfad Angerdorf Alt -Marzahn", die Kirche wurde 1985 zum Denkmal erklärt und im Rahmen der „Dorfrekonstruktion“ restauriert. Um das Dorfbild aufzupolieren, hat sich die DDR über ihre Kirchenpolitik hinweg gesetzt und eigenes Geld in einen Kirchenbau gesteckt - window dressing für ihr Image. Sogar für eine Rettungsgrabung der Archäologen hatte man Verständnis: Die Reste einer germanischen und slawischen Siedlung wurden von 1976 bis 1979 am Südostrand von Alt-Marzahn ausgegraben, bevor hier neue Bauten errichtet wurden. Der Name Marzahn hat übrigens nichts mit Zähnen zu tun, sondern beruht auf dem slawischen Begriff für Sumpf, die Wuhleniederung war und ist zum Teil noch sumpfig.

Auf dem Alt-Marzahner Dorfanger standen sich mehrere Jahre lang zwei Kirchen in nur wenigen Metern Abstand gegenüber. In der mittelalterlichen Feldsteinkirche konnte schon 1756 die Kirchenglocke nicht geläutet werden, weil sonst der Turm eingestürzt wäre. 1871 wurde die Stüler'sche neugotische Backsteinkirche eingeweiht, doch die alte Kirche fiel nicht zusammen, sondern musste abgetragen werden.

Auf einer Erhebung (wo sonst?) am Rande des Dorfes steht eine Bockwindmühle, die ebenfalls als typisches historisches Dorfelement alle Aufmerksamkeit der DDR-Gestalter bekam. Sie dreht sich heute noch zum Mahlen, der Müller heißt aber nicht Müller sondern Wolf.

Auf dem Parkfriedhof Marzahn gibt es eine Gedenkstätte für die Sinti und Roma, die im Dritten Reich in einem "Zigeunerlager" leben mussten. Im Vorfeld der Olympischen Spiele 1936 wurde die Reichshauptstadt "zigeunerfrei" gemacht, indem man Hunderte Sinti und Roma in Baracken auf einem ehemaligen Rieselfeld nördlich des Friedhofs zusammenpferchte. Nur wenige überlebten Krankheit, Hunger und die Deportation in Konzentrationslager.

Die Wuhle markiert das Ende unseres Rundgangs, bei dem wir heute die früher schon mehrfach besuchten Gärten der Welt ausgespart haben. Ein "himmelnaher Balanceakt" auf dem Dach zweier Punkthochhäuser in der Eisenacher Straße lässt uns fast den Atem stocken, der Bildhauer Hubertus von der Goltz arbeitet gern mit diesem Thema. Metallfiguren, die in großer Höhe balancieren, hat er bereits in den Niederlanden aufgestellt, in der Schweiz und auch in China zur Weltausstellung 2010 in Shanghai. Gottlob stürzt sich also niemand vom Dach, als wir ein Lokal in der Nähe suchen und dann bei einem Italiener in der Suhler Straße fündig werden. Gelobt seien die kleinen Helfer auf dem Handy, die den eigenen Standort bestimmen und Lokale in der Nähe benennen können.


Das größte Gemälde der Welt
Christlicher Garten (geplant)