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Nach dem Vorbilde der Bienenarbeit


Stadtbezirk: Lichtenberg
Bereich: Victoriastadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Türrschmidtstraße
Datum: 2. Januar 2012

In der Victoriastadt gibt es mehrere Wohngebäude aus den 1870er Jahren, die der Berliner Architekt Türrschmidt für die Berliner Cement Bau GmbH errichtet hat. Alfred Türrschmidt (diese Türr wird mit zwei "r" geschrieben) hat sich mit "Zementkonkret" beschäftigt, das in England beim Hausbau verwendet wurde. Als "concrete" wird im Englischen der Beton bezeichnet, es handelt sich also um Betonhäuser, die er untersuchte. Die Deutsche Bauzeitung veröffentlichte im Juli 1871 einen ausführlichen Fachartikel über "Gussbeton", wie das Verfahren bei uns heißt. Bei dieser Bauweise wurden in England beispielsweise "nach dem Vorbilde der Bienenarbeit vorwiegend sechseckige, mit Zement gefüllte Terrakotten zu Mauerwerks-Konstruktionen zusammengesetzt". Oder man hat Mauern geschüttet aus zerkleinerten Steinen, Schlacken, Sand und Kies, die mit Zement vermengt wurden.

So wurden auch die "Schlackebeton-Häuser" aufgebaut. In die Gussbetonmasse hat man größere Steinbrocken oder Mauersteine hineingedrückt und die Außenseiten zum Schluss mit Zement verputzt, die zu tapezierenden Innenseiten blieben roh. Hölzerne Formkästen gaben die äußeren Maße vor. Für die Befestigung von Treppen, Türen, Fenstern wurden Holzdübel eingegossen. Der Bewohner konnte auch Nägel einschlagen, um Bilder aufzuhängen, denn auch hierfür wurden Holzdübel unterhalb der Zimmerdecke in die Betonwände eingelassen. Die "Konkrethäuser" kosteten nur die Hälfte bis zu zwei Drittel eines konventionellen Ziegelbaus und wurden deshalb für die Victoriastadt favorisiert, schließlich erwartete man, dass dort "schlechtsituierte Personen Wohnung nehmen würden". Die Berliner Cement Bau errichtete in der Victoriastadt mehr als 40 zwei- oder dreigeschossige Bauten mit standardisierten Abmessungen bei Gebäudelängen und -tiefen, Schornsteinen, Raumgrößen, Wandstärken, Raumhöhen, Fenster- und Türöffnungen. Heute stehen noch fünf "Schlackebeton-Häuser", diese Bauten aus den 1870er Jahren sind nach Modernisierungen in den Jahren 1982 und 2004 bis heute bewohnt.

In der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte man in Berlin, bei der Enttrümmerung angefallene Ziegelreste (Split) als Baumaterial für den Wohnungsbau zu verwenden. Man stellte daraus Einkornbeton her, einen Leichtbeton, der bis zu 60 % Hohlräume aufweist. Eine Anknüpfung an die Qualität des Türrschmidtschen Gussbeton-Verfahren gelang damit aber nicht, 1983 mussten zwei Wohnhäuser in der Gutschmidtstraße in Britz-Süd wegen Einsturzgefahr geräumt werden.

Wir halten Beton für einen modernen Baustoff, sind vielleicht erstaunt über Betonhäuser aus dem 19.Jahrhundert, aber tatsächlich ist Beton ein antiker Baustoff, den es seit zweitausend Jahren gibt. Die Römer nannten ihn opus caementitium (davon abgeleitet ist unser Begriff "Zement") und bauten damit Tempel, Straßen, Brücken und Wasserkanäle. Beeindruckendstes Beispiel ist das Pantheon in Rom, dessen Kuppel den runden Zentralbau von 43 Metern überwölbt. Allerdings wurde kein Sichtbeton hergestellt, sondern der Beton als Zwischenschicht zwischen gemauerte Schalungen geschüttet, die durch Anker miteinander verbunden und mit Ziegeln verkleidet sind. Im Mittelalter gerieten diese Bautechniken in Vergessenheit. Erst der Expressionismus entdeckte sie wieder, konnte durch Beton (und Ziegel) seine Bauten schweben lassen und die Ideen der Baumeister durch eine plastische Form verwirklichen, als "sphärische Symphonien" (Hermann Finsterlin), als "funkelndes Kristall", als "Haus des Himmels" (Bruno Taut), als utopische, organische, anmutige, gezackte, geschwungene Gestalten. In der Architektur war der Expressionismus eine rein deutsche Erscheinung und keine Epoche, sondern eine Lebenshaltung. Später belasteten "Betonwüsten", graue Vorstädte und einfallslose Massen-Architektur, den Ruf dieses Baustoffes. Heute wäre die "Whow"-Architektur, wären die am Computer designten spektakulären Bauten für Museen, Musentempel, Hochhäuser ohne Beton nicht zu realisieren.

"Victoriastadt Lichtenberg" ruft uns das von Bahnlinien eingerahmte Stadtquartier von einer Hauswand aus zu, als wir es vom Bahnhof Nöldnerplatz unter einer S-Bahnbrücke hindurch betreten. Nicht "über sieben Brücken musst Du geh’n", wie bei Peter Maffay, sondern unter einer von fünf Brücken hindurch, um in den Kiez zu kommen. Die Hauswand mit dem Kiezsymbol steht an der Stadthausstraße, und hier gibt es die nächste Brücke. Sie kommt heute ohne Stützen aus, ihre Vorgängerin aber wurde von mehreren Hartungschen Säulen (--> 1) getragen. Aufmerksame Mitbürger haben dafür gesorgt, dass sie nicht verloren gehen, der kleine namenlose Park gegenüber dem Stadthaus wird jetzt von einer musealen Säulengalerie eingefasst. Das Stadthaus wurde 1902 als Rathaus für Boxhagen-Rummelsburg errichtet, heute ist hier das Heimatmuseum Lichtenberg untergebracht, das nach mehreren Umzügen endlich einen angemessenen Platz gefunden hat.

Unter dem Viadukt zum S-Bahnhof Nöldnerplatz finden wir eine rote Kunstinstallation, im Rahmen eines Projektes wurden „Künstlerische Zeichen im Lichtenberger Kaskelkiez“ an den fünf Brücken angebracht, die das von Eisenbahntrassen eingeschlossenen Stadtviertel erschließen.

Der Kaskelkiez - wie die Victoriastadt auch genannt wird - war bei seiner Gründung kein Wohnort für Gutsituierte. Nach der Wende machten erst Hausbesetzungen in der Pfarrstraße, dann der Einzug von Rechtsradikalen Schlagzeilen. Inzwischen ziehen junge Familien, Studenten, Kreative, Mittelstandsbürger in dieses ruhige Stadtquartier, das wie ein großes Auge geformt ist, auch von Friedrichshain gibt es Zuwanderung. Die schwierige Bevölkerung ist "’rausgewachsen", berichtet der Regionalsender rbb, und der Kioskinhaber vom Tuchollaplatz sagt über die Zukunft trotz schwacher Umsätze: "Ick bin juter Hoffnung".

Hinter der Pfarrstraße verlief früher der Kuhgraben, mit dem die Rummelsburger ihre Abwässer zum Rummelsburger See entsorgten. Heute gibt es hier nur noch eine Remise "Am Kuhgraben" mit einem Ausbildungsrestaurant, das kleine Fließ wurde zugeschüttet. Westlich - jenseits der Bahn - hatte sich der Betrieb "Knorr-Bremsen" angesiedelt, dessen Erweiterungsbau an der Hirschberger sich bis zur Schreiberhauer Straße erstreckt. Ein Tunnel verband beide Fabrikgebäude, der Neubau mit den turmartigen Aufbauten an beiden Enden wurde von Alfred Grenander entworfen, der als U-Bahn-Architekt berühmt wurde (--> 2). In dem gewaltigen Neubau sitzt heute die Rentenversicherung Bund (früher BfA). Knorr-Bremsen wurde von der Sowjetischen Besatzungsmacht enteignet und von der "VEB Berliner Bremsenwerk" bis zur Wende weiter geführt. Der Knorr-Konzern sitzt jetzt in München und beschäftigt weltweit 16.000 Mitarbeiter.

Vom Ostbahnhof gab es Rampen zur Marktstraße zum Entladen von Viehwaggons. Ferkel und Gänse wurden hier verkauft, bevor die Gemeinde 1903 wegen schlechter hygienischer Zustände den Markt schließen ließ. Der Viehhandel zog nach Friedrichsfelde um, zum "Magerviehhof Friedrichsfelde" an der Wriezener Bahn. Auch wenn es an der Marktstraße Ecke Schreiberhauer Straße heute nass ist (wir lassen uns den Spaziergang trotzdem nicht verregnen), hier zwischen Marktstraße und Bahndamm liegt das "Trockene Dreieck", das nach der Aufgabe des Marktes für kommunale Zwecke bebaut wurde. Backsteingotik mit Rundbögen und Stufengiebeln prägen den durch eine Backsteinmauer eingefassten Gebäudekomplex. Die großen Türen im Erdgeschoss des Stirngebäudes weisen auf die Nutzung durch die Feuerwehr hin, außerdem stand ihr ein Übungsturm zur Verfügung. Zu dem Komplex gehören weiterhin zwei großzügige Schulgebäude - eines mit 70 Klassenzimmern - und eine Turnhalle.

Vom Ostkreuz fahren wir mit der S-Bahn zurück (--> 3). Noch ist das Kreuz eine Großbaustelle. Die neue Ringbahnhalle und ein im Hintergrund sichtbarer aufgegebener Bahnsteig ohne Gleise zeigen Zukunft und Vergangenheit des Bahnhofs, wir ahnen, wohin die Reise einmal gehen soll.

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Ein früherer Besuch in der Victoriastadt: Eine Entdeckung
(1) mehr über Hartungsche Säulen finden Sie hier: Hartungsche Säulen
(2) Alfred Grenander, der U-Bahn-Architekt: Grenander, Alfred
(3) mehr zum Ostkreuz: Ostkreuz


Kein kulturelles Herz
Übererfülltes Soll und preußische Misswirtschaft