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Schiefe Erinnerung an einen Inselbesuch


Stadtbezirk: Friedrichshain
Bereich: Stralau
Stadtplanaufruf: Berlin, Alt-Stralau
Datum: 27. Dezember 2011

Im Jahre 1837 verbrachte der 19jährige Karl Marx einen Sommer auf der Halbinsel Stralau. Die ländliche Umgebung Berlins hatte er auf ärztliches Anraten aufgesucht, um seine angeschlagene Gesundheit zu verbessern. Eine Cholera-Epidemie veranlasste ihn schon im Spätsommer, Stralau den Rücken zu kehren. Die Stralauer Glashütte - an der bis zu 200 Arbeiter mit der Glasherstellung beschäftigt waren - hatte seiner Gesundheit nichts anhaben können, denn sie wurde erst 1890 gegründet, also mehr als 50 Jahre später. Trotzdem wird in der Gedenkstätte, die die DDR in Alt-Stralau 18 errichten ließ, Karl Marx gedanklich mit dem Glasarbeiterstreik von 1901 in Verbindung gebracht, der - so sagt es die Inschrift auf dem Steinen - von den Arbeitern "erfolgreich zu Ende geführt wurde". Das stimmt nicht, der Streik ging wegen leerer Kassen und mangelnder Unterstützung der Arbeiter plötzlich und ergebnislos zu Ende. Auf der "Generalversammlung des Verbandes der Glasarbeiter und Arbeiterinnen" sagte der Vorstand 1903 dann auch, "dass der Generalstreik der Glasarbeiter 1901 gegen den Willen des Vorstandes ausgebrochen ist". Die Delegierten verpflichten sich, mit aller Kraft die Fehler wieder gut zu machen, die bei dem Generalstreik gemacht worden sind. Das Karl-Marx-Denkmal ist damit ein Erinnerungsort besonderer Art, hier kann man erfahren, wie statt der Wahrheit typische Arbeiter-Ideologie-Bausteine zu einem Feindbild zusammen gefügt wurden.

Im Gegenteil: Die Fabrikherren hatten erkannt, dass zufriedene Arbeiter gute Arbeiter sind. Mit angemessenen Produktionsbedingungen, Werkswohnungen und Kindergarten hofften sie, "socialistischen Unfug" zu vermeiden. Der Streik richtete sich dann auch nicht gegen schlechte Arbeitsbedingungen oder Bezahlung, es ging vielmehr um die volle Anerkennung der bis dahin nur geduldeten gewerkschaftlichen Betätigung. Wenige Jahre später ergab sich sogar ein Gleichklang der Interessen von Unternehmen und Arbeitern, der ziemlich einmalig ist. In Amerika war eine Maschine erfunden worden, die die Glasarbeiter überflüssig machte, trotzdem behinderten die Glashütten nach Kräften die Umsetzung dieser Erfindung in Europa und verhinderten massenhafte Entlassungen. Mit diesem internationalen Kartell sicherten die Unternehmen ihren Absatzmarkt.

Glas ist einer der ältesten Werkstoffe überhaupt. Zunächst wurden Glasgefäße unter Verwendung von Formen hergestellt, bis dann vor mehr als zweitausend Jahren die Glasmacherpfeife erfunden wurde, ein mindestens ein Meter langes Rohr mit einem Mundstück. Mit diesem Rohr wird etwas flüssige Glasmasse aus dem Schmelzofen aufgenommen und durch Blasen und Drehen in die gewünschte Form gebracht. Für mundgeblasenes Glas wird diese Methode noch heute verwendet. 1901 hat der Amerikaner Michael Owens dann die erste vollautomatische Flaschenmaschine hergestellt, die nach dem "Saug-Blas-Verfahren" arbeitete. Wer denkt bei den Begriffen "Saugen" und "Blasen" in einem Satz nicht an Loriots Sketch über den Staubsaugervertreter, der der Hamann sein Gerät vorstellt mit dem Satz: "Hier saugt und bläst der Heinzelmann, wo Mutti sonst nur saugen kann".

Die Owens-Maschine ist wie ein Karussell aufgebaut, in dem bis zu 10 Flaschenplätze angeordnet sind. Für jede Flasche wird mit einem Vakuum ein Glastropfen angesaugt, anschließend wird durch blasen mit Druckluft das Werkstück automatisch erzeugt. Mit einer Leistung von 9 Flaschen pro Minute ersetzte die Maschine 25 Glasarbeiter. Der Inhaber der Gerresheimer Glashütte schaffte es, die Europäischen Glashütten im "Europäischen Verband der Flaschenfabriken" zusammen zu bringen und mit diesem Verband Owens die Patente für Europa für den unglaublichen Preis von 12 Millionen Mark anzukaufen, dafür musste Owens aber auf den Export nach Europa verzichten. Mit der schrittweisen Umstellung der Produktion auf die Owens-Maschine konnten die Europäer eine sanfte Anpassung des Flaschenabsatzes steuern.

Mit der Stralauer Halbinsel piekt Friedrichshain weit herein in die Bezirke Lichtenberg und Treptow, schiebt sich zwischen Rummelsburg und Treptower Park/Plänterwald. Erst östlich der Halbinsel finden Treptow und Lichtenberg zu einer gemeinsame Grenze zusammen (sofern das nicht paradox ist, "Grenze" als "Gemeinsamkeit" zu bezeichnen). Wie eine Fieberkurve verläuft die gemeinsame Bezirksgrenze um die Trabrennbahn Karlshorst herum, bevor Lichtenberg den Stab abgibt an Marzahn-Hellersdorf. Treptow darf sich als Doppelbezirk mit Köpenick noch bis zur südöstlichen Stadtgrenze ausdehnen und ist damit Berlins größter Stadtteil mit fast 20 % der Berliner Fläche, allerdings mit der niedrigsten Einwohnerdichte, Friedrichshain-Kreuzberg hat fast 10 mal so viele Einwohner.

Von Alt-Stralau aus gesehen - wo wir heute flanieren - liegt also das nördliche Ufer des Rummelsburger Sees in Lichtenberg und das südliche Spreeufer in Treptow. Die Reste der alten Glasfabrik finden sich an der Glasbläserallee - nomen est omen. Hier findet sich Graffiti ohne Ende, es gibt Kunst und Nicht-Kunst, wo die Grenze zwischen beidem ist, bleibt fraglich. Bereits auf dem Gehwegpflaster von Alt-Stralau hatten wir mehrfach die verzweifelten Treueschwüre eines Unbekannten an eine Unbekannte gelesen: "Ich liebe Dich soo sehr, es tut mir leid". Ob die Angebetete diesen Weg gegangen ist und sich zur Rückkehr überreden ließ, ist nicht bekannt. Da sprachlich nicht einmal klar ist, ob Empfänger oder Absender Mann oder Frau ist, wäre natürlich auch jede andere Geschlechterkombination bei diesem Hilferuf möglich. Dagegen kann man verfolgen, wer "I love 4.20" auf den Gehweg der Kynaststraße gepinselt hat, die Spur führt auf facebook zu einer kommerziellen Adresse.

An der Straße Alt-Stralau sollen Reste einer mittelalterlichen Burganlage erhalten sein, die Denkmaleintragung spricht sogar von einem "frühdeutschen Adelssitz" im 13.Jahrhundert, der irgendwann nach 1400 wieder aufgegeben wurde. Dieses Bodendenkmal haben wir nicht gefunden, auch keinen Hinweis darauf. Der Palmkernölspeicher direkt am See dagegen ist nicht zu übersehen, er wird gerade restauriert und umgebaut. Er liegt an der Straße "Zum Speicher", auch hier: nomen est omen. Und dann gibt es noch ein Kuriosum, einen Flaschenkeller, der in die Höhe gebaut wurde, weil so nahe am Wasser keine Tiefkeller ausgehoben werden konnten. Die Engelhardt-Brauerei ließ in den 1920er Jahren diesen fünfstöckigen Flaschenkellerturm aus Stahlbeton mit innerer Korkdämmung errichten, die Kühlanlage im obersten Stockwerk temperiert die Bottiche und Flaschen über einen Kühlkreislauf im gesamten Gebäude.

Ein ungenutztes Gebäude an der Straße Alt-Stralau verweist mit seiner ornamentalen Beschriftung als "Forschungsanstalt für Schiffahrt, Wasser- und Grundbau" auf die Nachkriegszeit, in der Doppelinstitutionen ist Ost- und West-Berlin alltäglich waren. In dem Gebäude arbeitete das DDR-Schwesterinstitut zur West-Berliner Versuchsanstalt auf der Charlottenburger Schleuseninsel (--> 1). Deren Ursprünge gehen zurück auf das Jahr1903, als auf der Schleuseninsel die Preußische Versuchsanstalt für Wasserbau und Schiffbau gegründet wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg errichtete die Sowjetische Besatzungsmacht 1945 in ihrem Einflussbereich die Stralauer Forschungsanstalt, die bis zur Wende hier arbeitete. Auf der Schleuseninsel betrieb in dieser Zeit die Technische Universität die West-Berliner Forschungsanstalt.

Auch wenn wir tagsüber flanieren, darf das Flaniermahl zum Abschluss nicht fehlen. Heute trafen wir uns abends beim Thailänder in der Mauerstraße, einem angenehmen Lokal, in dem freundliche Thailänder/innen Speisen auf den Tisch bringen, deren Wohlgeschmack uns immer wieder begeistert.

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Mit unserem heutigen Spaziergang haben wir den vorangegangenen Besuch "drüben" in der Rummelsburger Bucht fortgesetzt: Kein kulturelles Herz
(1) Versuchsinstitut auf der Charlottenburger Schleuseninsel: Geheime Orte auf dem Campus

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Unsere Route:
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