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Erste Kreuzberger Wohngemeinschaft


Stadtbezirk: Kreuzberg
Bereich: Oranienstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Oranienplatz
Datum: 24. Oktober 2011

Die erste Kreuzberger Wohngemeinschaft wurde in der Zeit der 1968er Studentenproteste und Kinderladenbewegung gegründet. Könnte man glauben, stimmt aber nicht. Es war der mit Goethe befreundete Schriftsteller, Journalist und Wissenschaftler Karl Philipp Moritz, der 1783 als Konrektor des Gymnasiums „Zum Grauen Kloster“ mit Schülern zusammen an der Oranienstraße eine Wohnung nahm. Heute ist dort eine Häuserzeile nach ihm benannt, ein Bau, der in der Zeit der Bauausstellung IBA 1984/87 geplant war, aber erst später ausgeführt wurde. Moritz war Protokollant der „Königlich Preußischen Akademie der Künste und Mechanischen Wissenschaften“ und musste beispielsweise die Diskussion der Akademiemitglieder vor dem Brandenburger Tor dokumentieren, wie groß die Pferde der Quadriga sein sollten, um sich der Würde und Größe der Toranlage unterzuordnen. Später hielt er selbst Vorlesungen an der Akademie über die "Theorie der schönen Künste und der dahin gehörigen Wissenschaften". Er schrieb kunsttheoretische Abhandlungen und Romane (autobiografisch: "Anton Reiser") und beschäftigte sich mit Grammatik, Sprachphilosophie, Mythologie, Psychologie, Pädagogik, Poetik und Stilistik. Karl Philipp Moritz, der "Erfinder" des psychologischen Romans, blieb der Nachwelt nicht im Gedächtnis, er ist der "berühmteste unbekannte Klassiker" (Deutschlandradio), obwohl er für Goethe "wie ein jüngerer Bruder" war. Auch der Moritzplatz ist (natürlich) nicht nach ihm benannt, sondern nach einem Prinzen von Oranien.

Die Oranienstraße vom Moritzplatz zum Oranienplatz ist die erste Etappe unseres heutigen Rundgangs. Am Moritzplatz hatte Wertheim in der Kaiserzeit ein Kaufhaus errichtet, am Oranienplatz gab es mehrere Warenhäuser, die Oranienstraße war vor dem Zweiten Weltkrieg der "Kudamm des Osten". Der Moritzplatz, einer der lebendigsten Plätze Berlins, wurde durch die Kriegzerstörung zum Unort, zur "Brache mit U-Bahn-Anschluss". Die Öde ist gewichen, seit hier der Aufbau-Verlag unter Einbeziehung der ehemaligen Bechstein-Fabrik ein „Haus mit Ideen“ errichtet hat, das Kultur, Kreativindustrie, ein Theater, einen Kindergarten, ein Café, eine Buchhandlung verbindet - kurz alles, was man an einem urbanen Ort erwartet. Gerillte Betonplatten hüllen den Neubau ein, durch das offene Treppenhaus fegt bei unserem Besuch der Herbstwind. Andere Jahreszeiten mögen einladender sein, um länger auf dem französischen Balkon zur Oranienstraße zu verweilen.

Ein weiteres bemerkenswertes Haus steht an der Oranienstraße 46 - es ist das kleinste Haus Kreuzbergs mit einer Grundfläche von nur 48 qm. Als die Luisenstadt um 1860 parzelliert wurde, kaufte ein Bäckermeister für seinen Imbissstand ("Schmalzkuchenbude") diese Restfläche. Dahinter lagen landwirtschaftliche Felder, die später einem Nachbargrundstück zugeschlagen und bebaut wurden. Der Konditormeister errichtete dann mit Ausnahmegenehmigung ein Stadthaus („townhouses“ gab es schon damals) mit Lichtschacht und eiserner Wendeltreppe zu den zwei Obergeschossen. Das Erdgeschoss und teilweise auch die 1.Etage wurden im Laufe der Zeit für unterschiedliche Gewerbe genutzt: Restaurant, Konfitürenhandlung, Hutladen, Lampenschirmhandel, Kunsthandlung. Der Galerist, der heute in den Räumen ausstellt, hat eine Dokumentation erarbeitet und öffnete das Haus am Denkmaltag 2010.

Der Oranienplatz hat im Zeitenlauf sein Aussehen immer wieder entscheidend verändert. Dabei gab es Ausschläge zwischen Extremen wie Unort und schönstem Berliner Platz. Ab 1848 war der Luisenstädtische Kanal als Verbindung zwischen Spree und Landwehrkanal mitten durch den Oranienplatz gebuddelt worden. In der revolutionären Situation des Jahres 1848 hatten im Oktober Kanalbauarbeiter gegen den Einsatz einer Dampfmaschine demonstriert, weil sie den Abbau von Arbeitsplätzen befürchteten, 13 Arbeiter wurden dabei von der Bürgerwehr getötet. Mehrere Maschinenstürmer wurden zur Zwangsarbeit verurteilt, die Kanalbauarbeiter wurden zu täglich 11-stündiger Akkordarbeit verpflichtet, das "Zusammentreten in Masse" wurde ihnen verboten. Nach vier Jahren Bauzeit wurde der Luisenstädtische Kanal eingeweiht.

Südlich des Oranienplatzes an Prinzessinnenstraße und Segitzdamm gab es einen Wochenmarkt und einen Markt für Stroh, Heu und Holz. Belastungen durch Marktabfälle, Staub, Verkehr, Pferdebahnen und Behinderungen durch das Öffnen der Brücke für Schiffspassagen prägten den Charakter des Platzes negativ. 1888 wurde der Wochenmarkt in die Markthalle am Alfred-Döblin-Platz verlegt, der Holz-, Heu- und Strohmarkt wanderte 1894 an den Görlitzer Bahnhof. Eine steinernen Brücke mit mächtigen Kandelabern und die parkartige Gestaltung machten den Oranienplatz zum schönsten Jugendstilplatz Berlins, auch wenn die Brücke gleichzeitig den starken Verkehr der Oranienstraße und der Dresdener Straße aufnehmen musste.

Inzwischen hatte sich die U-Bahn im Kampf um die örtliche Verbindung zwischen Gesundbrunnen und Neukölln durchgesetzt. Die von der „Gesellschaft für elektrische Unternehmungen“ aus Nürnberg favorisierte Idee einer Schwebebahn - für die auf der Brunnenstraße zur Anschauung eine kleine Trasse gebaut worden war - war vom Tisch, der U-Bahntunnel hatte den Oranienplatz erreicht. Außer einem unterirdischen Umspannwerk wurde aber jahrelang nichts weiter realisiert, die Baugrube blieb ab 1914 offen, der Platz hatte wieder einmal einen Tiefpunkt erreicht. Da der Kanal dem U-Bahnbau im Wege war und als fast stehendes Gewässer ein stinkendes Ärgernis bildete, wurde er 1926 komplett zugeschüttet, genügend Material hatte man ja durch den Aushub des U-Bahnbaus. Übrigens hat die Bewag das Umspannwerk nach dem Zweiten Weltkrieg reaktiviert und jahrelang betrieben.

Nach dem Zuschütten des Kanals wurde der Oranienplatz wieder zu einem Schmuckstück. Der Berliner Gartenbaudirektors Erwin Barth entwarf den Grünzug auf dem ehemaligen Wasserlauf, die prächtige Oranienbrücke war leider überflüssig geworden. Am Platz standen das Warenhaus von C & A Brenninkmeyer (1913 von Cremer & Wolffenstein errichtet) und diagonal gegenüber das Konfektionshaus Maassen ("Deutschlands größtes Spezialhaus für Damenbekleidung"), das von Max Taut 1931 in den Neubau eines Warenhauses der Konsumgenossenschaft im Stil der Neuen Sachlichkeit einbezogen wurde.

Nach dem Zweiten Weltkrieg drohte dem Platz neues Ungemach, hier sollte ein Autobahnkreuz für die Stadtautobahn entstehen. Vom Prenzlauer Berg bis zur Marienfelder Chaussee war die Autobahn 102 als Nord-Süd-Verbindung geplant, am Oranienplatz sollte sie sich mit der Autobahn 106 von Schöneberg nach Köpenick kreuzen. Realisiert wurde von der 102 nur der kurze Abschnitt Gradestraße/Kreuz Tempelhof. Allerdings ist die Stadtplanung hierauf ausgerichtet worden, so dass beispielsweise am Kottbusser Tor Neubauten eine „Rückseite“ zur geplanten Autobahn bekamen.

Die Berlinale fand 2010 im ehemaligen Maassen-Haus mit der Themenstellung statt: "Was draußen wartet". Wir haben eine Antwort darauf, auf dem ungepflegten Platz steht ein futuristisches Pissoir ohne Dach, ein metallenes Schneckenhaus, dem der Zweck mit Großbuchstaben angeschrieben ist, ein Pinkel-Prinz aus Anhalt hätte hier nichts zu befürchten. Früher gab es hier zwei Kioske mit Bedürfnisanstalten, die für Männer war "siebenständig", der heutige ist kleiner.

Gerade einmal 500 Meter sind wir bis hier gelaufen, 5.700 Wörter habe ich gebraucht, um darüber zu berichten. Das sind mehr als 10 Wörter pro Meter, da werde ich mich auf dem weiteren Weg zu zwei Industriedenkmalen in der Ritterstraße wohl kürzer fassen müssen. In dem Bereich zwischen Anhalter und Görlitzer Bahnhof siedelten sich viele exportorientierte Unternehmen mit einem intensiven Frachtverkehr an, was dem Gebiet den Namen »Rollkutscherviertel« einbrachte.

Kaufhausarchitektur an der Fassade eines Gewerbehofs, unser heutiges Thema Kaufhaus taucht auch hier auf. Am Ritterhof mit mehrfarbigen Glasurklinkern und natürlich einem Ritter als Bauplastik an der Straßenfassade, typische weißglasierte Kacheln in den Innenhöfen. Mit drei Höfen umschließt dieser Gewerbehof L-förmig das Pelikan-Haus, ein weiteres Gewerbehaus mit aufwendigem Bauschmuck. Kurt Berndt - der Erbauer der Hackeschen Höfe - hat diesen von großen Glasflächen geprägten Bau geschaffen, der aber auch mit Säulen und Atlanten geschmückt ist. Metallwaren, Tapisserie (Bildteppiche), Zigaretten wurden in diesem Haus hergestellt, bevor Pelikan-Füllfederhalten und -Tinten hier einzogen. Ein paar Grundstücke weiter produzierten in den Butzke-Werken einst 800 Mitarbeiter Sanitärartikel, heute werden hier Gedanken produziert, das Aqua Carré Berlin ist eine Denkfabrik geworden. Nur das Aqua-Logo im Straßentor und ein verblichener Schriftzug am Gebäude deuten noch auf die frühere Fabrik hin, das Vorderhaus hat den Krieg nicht überlebt.

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Mehr zu Wertheim am Moritzplatz und dem U-Bahnhof Oranienplatz: Erfolgslose Buddelei
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