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Deutsch-russische Verbundenheit


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Bahnhof Charlottenburg
Stadtplanaufruf: Berlin, Stuttgarter Platz
Datum: 15. Dezember 2014
Bericht Nr: 490

In einem Husarenstreich übernahmen russische Truppen im Oktober 1757 Berlin, erpressten 200.000 Taler Kontribution und zogen sich nach einem Tag wieder zurück, als die preußischen Truppen heranrückten (1). Sehr viel länger blieben die Flüchtlinge aus Russland, die nach dem Untergang des Zarenreiches nach Berlin kamen. Diese Zuwanderer aus der russischen Mittel- und Oberschicht siedelten sich überwiegend in Charlottenburg und in Schöneberg zwischen Wittenbergplatz und Nollendorfplatz an (2). Schon vorher hatte eine Flüchtlingswelle von mittellosen "Ostjuden" aus Russland und anderen Ländern eingesetzt, deren neue Heimat das Scheunenviertel wurde (3). Nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion gab es eine neue Auswanderungswelle von russischsprachigen Juden und von Russlanddeutschen. Die deutschstämmigen wurden jahrelang mit der Einreise automatisch deutsche Staatsangehörige, ab 2001 mussten Spätaussiedler ausreichende Deutschkenntnisse nachweisen, um eingebürgert zu werden. Auch Angehörige von Russen, die bei der Privatisierung der Staatswirtschaft zugegriffen haben und reich geworden sind, kamen und kommen nach Berlin.

Deutsch-russische Verbundenheit gibt es seit Jahrhunderten. Die russische Zarin Katharina die Große wurde als Prinzessin von Anhalt-Zerbst geboren, ihr Sohn Paul I. heiratete eine Prinzessin von Hessen-Darmstadt und nach deren Tod eine Prinzessin von Württemberg. Deren gemeinsamer Sohn Alexander I. wiederum ehelichte eine Prinzessin von Baden. Anlässlich seines Besuches in Berlin wurde der Alexanderplatz nach ihm benannt. Kaiser Nikolaus I. von Russland war mit Charlotte von Preußen verheiratet. Die Besuche russischer Zaren in mondänen deutschen Kurorten führten dazu, dass russische Adlige und Intellektuelle diesem Beispiel folgten. Und in der Reihe der deutsch-russischen Verbindungen soll das große Brudervolk nicht vergessen werden, das von der DDR (jedenfalls offiziell) verehrt wurde, bis die Perestroika das Ende des ostdeutschen Staates mit verursachte. Boris Jelzin und Helmut Kohl genierten sich nicht, ihre Pfunde gemeinsam in der Sauna schmoren zu lassen. Nur Merkel und Putin kommen auf keinen gemeinsamen Nenner, obwohl sie die Sprache des anderen perfekt beherrschen.

In den zwanziger Jahren erschienen in Berlin so viele russische Bücher wie nirgendwo sonst auf der Welt. Es gab russische Tages- und Wochenzeitungen und einen russischen Reiseführer für die Stadt. 1922 fand die Erste Russische Kunstausstellung in Berlin statt. Die Ballettmeisterin Tatjana Gsovsky nahm ihren Wohnsitz in der Fasanenstraße, Vladimir Nabokov schrieb in seiner Berliner Zeit sieben Romane - in russischer Sprache. Eine umfangreiche Kulturszene entwickelte sich, die geprägt war durch die Emigranten aus der politischen, wirtschaftlichen, geistigen und künstlerischen Elite Russlands, die Unterschicht fehlte fast völlig. Die Russen blieben unter sich, fühlten sich im Wartestand, hatten überwiegend nicht die Absicht zu bleiben und sich zu integrieren. So entstand "Charlottengrad", abgeleitet aus Charlottenburg, wo viele Russen wohnten.

Russische Theater und Kabaretts entstanden. In der Goltzstraße flatterte der "Blaue Vogel" über die Bühne, und schon bald flog er weiter in die USA, nach Spanien, Holland, Spanien, Litauen, Schweden, Jugoslawien. „Der Blaue Vogel ist das Herrlichste, was man hier in der Welt sehen kann“, schwärmte Else Lasker-Schüler (4) über das Bühnenstück, in dem die russische Seele sehnsuchtsvoll dem heiligen Boden entgegen fliegt, von dem sie verbannt worden ist. Es war ein Rausch von Farben und Musik, gesungen und gespielt wurde auf Russisch, manchmal auch in einem „köstlichen Deutsch, das so schmeckt, als ob es lange in russischer Beize gelegen hätte“ (Theaterkritiker Alfred Polgar). Ein Conferencier führte durch die Nummernrevue, man kann sich das so ähnlich wie bei "Cabaret" vorstellen. Die nichtrussischen Zuschauer lernten von ihm, „jeschtscho ras“ (noch einmal) zu rufen, verabschiedet wurden alle mit „Auf Widdersän!“.

Rund 300.000 Exilrussen sollen damals in Berlin gelebt haben. Den über den Kudamm fahrenden Bus nannten die Berliner „Russenschaukel“, und auf dem Weg zum Nollendorfplatz rief der Schaffner die Haltestelle "Rußland" aus. Das Bild änderte sich, als die Nazis die Macht übernahmen, viele Russen verließen Deutschland. Heute wird die Zahl der russischsprachigen in Berlin wieder auf bis zu 300.000 geschätzt, aber hat sich das alte Charlottengrad neu belebt? Wir gehen auf Spurensuche.

In Marzahn befindet sich Berlins größter Supermarkt für russische Lebensmittel, der "MixMarkt". Er wird beliefert vom "Monolith"-Konzern, dessen Sortiment auf die Bedürfnisse von Russlanddeutschen ausgerichtet ist. Auch der Supermarkt "Rossia" im Bahnhof Charlottenburg bietet etwas Heimatgefühl für Exilanten, die auf vertraute Genüsse aus Sowjetzeiten nicht verzichten wollen. Dazu gehört neben Birkensaft, Quark und Bier natürlich Wodka und Kaviar. Nicht weit von hier in der Kantstraße preist der "PrimaMarkt" in großen Lettern russische Spezialitäten an. Um die Ecke in der Kaiser-Friedrich-Straße ist ein russischer Fischmarkt in einem Laden ansässig. Spezialitäten nach altem Rezept, von einer gelernten Krankenschwester zubereitet, gibt es in der "Marone", ebenfalls in der Kaiser-Friedrich-Straße. Auf der anderen Seite der Bahn kann man in der Mommsenstraße im "Kaviar-Haus Tiflis" einkaufen. Auch der koschere Feinkostladen mit Café "Best Daily Dishes" in der Waitzstraße wird von russischen Internet-Plattformen als Adresse genannt, sein Inhaber Yevgeny kommt aus Russland und hat dort gelernt.

In dem Kiez um den Stuttgarter Platz häufen sich die russischen Angebote, ohne dass man wirklich von einem neuen Charlottengrad sprechen könnte. In der Dahlmannstraße logieren Russen im Hotel Orion, aber auch das zwei Bahnstationen entfernte Hotel Astoria in der Fasanenstraße - das gerade geschlossen wurde - warb um russische Kunden mit kyrillischem Text "Zimmer frei". Die Angebote sind über die Stadt verteilt, es gibt nichts, das einem türkischen "Klein-Anatolien" oder einem Chinatown vergleichbar wäre. Das Restaurant "Paris-Moskau" - es liegt in Moabit - ist heute eine deutsche Nobelgaststätte, angefangen hatte es als russisches Lokal. In Mitte findet man die "Russendisko" von Wladimir Kaminer in der Torstraße (5). An Kaminer kommt keiner vorbei, der sich mit Russen in Berlin beschäftigt. Nach Wehrdienst bei der russischen Flugabwehr, Ausbildung als Tontechniker, Studium der Dramaturgie, Veranstaltung von Untergrundpartys kam er 1990 nach Berlin und wurde Deutscher. Er schreibt auf Deutsch Kolumnen und Bücher und veranstaltet die legendäre "Russendisko" im Café Burger.

In Mitte hat auch eine angesagte deutsche Maklerin ihr Büro, die Berliner Immobilien an reiche Russen und Ukrainer vermittelt. Durch die Ukraine-Krise und den Absturz des Rubels sind sichere Geldanlagen stark gefragt. Die Objekte werden teilweise ohne Besichtigung vom Exposé weg geordert, die notwendige Beurkundung beim Notar per Vollmacht vollzogen. Auch russische Großinvestoren schauen auf Berlin, so will die Moskauer "Monarch"-Gruppe ein Hochhaus am Alexanderplatz bauen.

Es ist paradox, dass sowohl der Russisch-Orthodoxe Friedhof in Tegel (6) als auch die Russisch-Orthodoxe Kathedrale am Hohenzollerndamm (7) vom Verkehrslärm überbordet werden. Dagegen lag die Privatsynagoge Beth Jitzchok auf einem Innenhof in der Kantstraße 125. Der "Baukönig von Charlottenburg", Alfred Schrobsdorff (8) hatte das vorher als Glaserei genutzte Gartenhaus 1908 für die russisch-jüdische Gemeinde herrichten lassen. Nach Vertreibung der Gemeinde wurde daraus nach dem Zweiten Weltkrieg "Marias Gartenhaus", heute steht der Bau leer. Ebenfalls in Charlottenburg, südlich der Spree, an der Wintersteinstraße hat die Russisch-Orthodoxe Gemeinde “Schutz der Gottesmutter” eine ehemalige Kita zur bescheidenen Kirche mit goldenen Kuppeltürmen umgebaut (9).

Der Ausgangspunkt unseres heutigen Stadtspaziergangs ist der Stuttgarter Platz zu Füßen des Bahnhofs Charlottenburg. Christian Morgenstern wohnte hier um die Jahreswende zum 20.Jahrhundert. Der 1882 eröffnete Bahnhof bekam erst zehn Jahre später einen ansprechenden Vorplatz. Ein offener Abwasserkanal, der den östlichen Teil des Platzes überquerte und seinen dreckigen Inhalt durch die Kaiser-Friedrich-Straße zusammen mit dem Lietzenseegraben zur Spree hin entwässerte, musste erst in die Kanalisation der Wilmersdorfer Straße umgeleitet werden. Jetzt konnte der Platz seinen Namen bekommen und bebaut werden. Der bereits erwähnte "Baukönig von Charlottenburg", Alfred Schrobsdorff, zog hierher. Auch seine "Terraingesellschaft Stadtbahnhof Charlottenburg" (10) hatte hier ihr Büro und errichtete mehrere heute noch erhaltene Wohnhäuser, beispielsweise Nr.16 mit einem Stufengiebel und das Eckhaus zur Windscheidstraße. Zu beiden Straßen hin stützen Karyatiden - weibliche Figuren in Gewändern - mit der einen Hand einen Balkon und halten sich gleichzeitig mit der anderen Hand daran fest.

Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der kriegszerstörte östliche Teil des Platzes neu bebaut. Damit ist ein Kontrast entstanden, der tendenziell bis heute andauert zwischen dem westlichen Teil mit bürgerlichen Wohnungen in Gründerzeitbauten und dem östlichen mit Billigläden und Rotlichtmilieu. Nach dem Krieg wurden hier Schwarzmarktgeschäfte abgewickelt, dann fuhren von hier die Fernbusse nach Westdeutschland, der "Stutti" war Busbahnhof geworden. Und der Stuttgarter Platz war zu West-Berliner Zeiten die „Berliner Reeperbahn“. Doch der „König vom Stutti“ - einst eine Rotlichtgröße - ist müde geworden. Er hat sich zurückgezogen und seine Memoiren geschrieben, "Ein Ludenleben ohne Filter". Es gibt kaum noch Etablissements am Platz, ein Designladen und ein Buchantiquariat sind in ehemalige Clubs eingezogen. Eine kecke Lichtreklame hatte der Club "Stutti Frutti": Auf einer Banane saß eine nackte Comicfrau. Auch sie ist schon längst abgeschraubt worden, genau so verschwunden wie der Club. Nur eine in Umrissen beleuchtete Frauenfigur wirbt immer noch an einer Fassade für "Table Dance".

Inzwischen ist der Platz kein Platz mehr, sondern eine Straße mit begleitendem Grünstreifen. Der S-Bahnhof wurde näher an die Wilmersdorfer Straße gerückt, eine Bürgerinitiative konnte den Ausbau des Bahnhofs zu einem Shopping-Center mit Hochhaus und Arkaden verhindern. Der hässliche Parkplatz wurde beseitigt, Büsche wurden gepflanzt und Parkwege angelegt. Aber immer noch hängt im östlichen Bereich des Platzes Ramschware vor den Läden und Waffen werden in einer Auslage angeboten.

In der Windscheidstraße finden wir mit dem Dal Buongustaio den richtigen Italiener, bei dem wir nach der heutigen Stadtforschung zu Fuß Beine und Seele baumeln lassen können.

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(1) "Berliner Husarenstreich": Ein Dutzend kostbarer Handschuhe mit Berliner Wappen, das die Russen der verbündeten österreichischen Kaiserin Maria-Theresia zum Geschenk machen wollten, hatten sie zusätzlich als Trophäe erbeutet. Leider hatte die Berliner Manufaktur sie angeführt und nur linke Handschuhe eingepackt.
(2) Russische Emigranten in der Motzstraße: Ein Engel vor der Pforte
(3) Das Scheunenviertel als Quartier verarmter Juden aus osteuropäischen Ländern: Die Spuren sind verweht
(4) Mehr über Else Lasker-Schüler: Lasker-Schüler, Else
(5) Mehr über die Torstraße und die Russendisko: Unauffällig schrill
(6) Russisch-orthodoxer Friedhof in Tegel: Russisch-orthodoxer Friedhof in Tegel bei Berlin
(7) Russisch-Orthodoxe Kathedrale am Hohenzollerndamm: Kirche, Moschee und Kathedrale
(8) Mehr über den "Baukönig von Charlottenburg", Alfred Schrobsdorff: Schrobsdorff, Alfred
(9) Russisch-orthodoxe Kirche in der Wintersteinstraße: Wo Libellenflügel in der Sonne glitzern
(10) Mehr über Terraingesellschaften: Terraingesellschaften

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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Russen in Berlin

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... und hier sind weitere Bilder ...
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Stuttgarter Platz und Umgebung

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Unsere Route
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Zwischen Strapsen geboren
Zwei Piloten und ein Bürgermeister