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Radiolizenz kostet Milliarden


Stadtbezirk: Tiergarten
Bereich: Moabit
Stadtplanaufruf: Berlin, Turmstraße
Datum: 6. September 2009

Die ersten Radiohörer meldeten ihre Geräte nicht bei der GEZ an - die gab es damals noch nicht - sondern kauften eine Lizenz. Wilhelm Kollhoff aus der Turmstraße musste 1923 für die Lizenz Nr.1 den Betrag von 350 Milliarden Reichsmark bezahlen, es war Wirtschaftskrise und galoppierende Inflation. Sein Telefunken-Rundfunkempfänger stand nicht beim Händler im Regal, sondern wurde erst produziert und dann ins Haus geliefert.

Seit Herr Kollhoff einen Zigarrenladen in der Turmstraße betrieb, hat sich einiges geändert. Zwei Einzelhandelskonzerne sind mit ihren Kaufhäusern in die Insolvenz gegangen, "Hertie" und "Woolworth" steht noch an den Fassaden, aber das sind Relikte einer gerade vergangenen Zeit.

Wer mobil ist, kauft gezielt vor den Toren der Stadt, dort wird großflächiges Erlebnisshopping in Einkaufscentern auf der grünen Wiese geboten. Gute Fachgeschäfte, traditionelle Warenhäuser und Tante-Emma-Läden können sich nicht mehr halten und geben auf. Discounter wie Aldi, Lidl, Schlecker gehen in diese Lücke, aber ihr gnadenloser Niedrigpreis wird erkauft, indem kaum noch Personal, ein einseitiges Sortiment, geringere Warenqualität und schlichte Ladenausstattung ihre Kosten klein hält. Seit 1992 hat sich die Einzelhandelsfläche in Deutschland um ein Drittel erhöht, ohne dass der Umsatz im Einzelhandel gestiegen wäre. Dieses "Trading Down" führt zur schlechteren Versorgung vor Ort, zum Leerstand von Läden.

Es gibt Initiativen von Senat und Wirtschaft, Einkaufsstraßen wieder "zu Orten zu machen, an denen etwas geschieht" („MittendrIn Berlin"), aber die Turmstraße war bisher nicht dabei. Das Bundesbauministerium bezahlt über sein Programm „Aktive Zentren“ Standmiete und Strom für 10 Stände beim Turmstraßenfest, dort können sich Akteure vor Ort darstellen. Die Interessengemeinschaft "Wir für die Turmstraße" veranstaltet nicht nur das Turmstraßenfest, sondern engagiert sich auch, um den Trend zur "Ramsch- und Schmuddelmeile" aufzuhalten. Das Quartiersmanagements Moabit hat „Goldenen Straßenregeln für Moabit“ erarbeitet, die z.B. auffordern: „In Moabit da gilt die Pflicht, gebrauche deine Fäuste nicht!"

Ladeninhaber in der Turmstraße kämpfen um ihre Kunden. Nermin Dogan verkauft in der angrenzenden Arminius-Markthalle Fische und Tiefkühlkost, aber mit der Idee, den Moabitern die Pferdeboulette schmackhaft zu machen, hat sie eine Bauchlandung erlebt, kaum einer wollte sie essen. Die Dorotheenstädtische Buchhandlung begeistert ihre Kunden mit “kriminellen Veranstaltungen” und hält sich seit 30 Jahren in der Turmstraße.

99-Cent-Ramschläden, Fast-Food-Läden, Spielhallen und Automatencasinos breiten sich aus. Die Idee, die Spielhallen würden sich hier vermehren, weil in Russland seit Juli 2009 das Glücksspiel verboten ist (zu finden auf "moabitonline.de"), halte ich allerdings für verwegen. Die Bezirke beklagen, dass der Senat sie nicht genügend beim Kampf gegen die Automatencasinos unterstützt. Andererseits hat der Senat ein Stadtforum eingerichtet für die Straßenzüge, die immer gesichtsloser werden ("Alte und Neue Identitäten").

Die "BZ" lässt eine Anwohnerin zu Wort kommen. „Hier waren überall Kinos“, sagt sie, „für ein paar Groschen konnte man zwei Stunden schmachten. Besonders schön war der Turm-Palast, dort war alles aus Samt.“ Tatsächlich hatte die Turmstraße vier Kinos: das "Ufa-Theater" (nach Wiederaufbau "Turm-Palast") bis 1974 an der Ecke Stromstraße mit knapp 1600 Plätzen, das "Arena" bis 1974, das "Maxim" bis 1974, die "BTL-Lichtspiele" bis 1979. Für kurze Zeit (nur sieben Jahre bis 1916) konnte man in das "Kinematographentheater" gehen. Mit der zunehmenden Mobilität nach dem 2.Weltkrieg blieb man nicht mehr im Kiez, das Fernsehen veränderte die Sehgewohnheiten total, und so verschwanden die Kinos innerhalb von nur 5 Jahren, Aldi zog in die "Maxim"-Räume. Heute gibt es nur noch das kommunale Kellerkino beim Kunstverein Tiergarten.

Von der Turmstraße geht die mit 50 Metern kürzeste Allee Berlins ab, die Thusnelda-Allee, benannt nach der Ehefrau des Cheruskerfürsten Arminius. Das einzige Haus in der Straße ist die Heilandskirche mit einem 90 Meter hohen Turm, das ist der höchste Kirchturm, der je in Berlin gebaut wurde. Die Turmstraße erhielt 1827 ihren Namen, weil man an ihren Enden jeweils einen Turm sehen konnte (Spandauer Nicolaikirche, Berliner Sophienkirche). Das einzige Haus am Mathilde-Jacob-Platz ist das Rathaus Tiergarten, ein Bau aus der NS-Zeit, der den Blick auf die dahinter liegende Arminius-Markthalle unmöglich macht. "Reißt das Rathaus ab" fordert der Künstler-Architekt Erik Göngrich und manche Forumsbeiträge bei moabitonline.de geben ihm recht. Berlin war schon immer die Stadt des schnellen Abrisses (und Wiederaufbaus), wie wäre es denn, wenn wir uns mit der Vergangenheit zur Abwechslung einmal ohne Kahlschlag auseinander setzen, sie annehmen statt sie zu beseitigen?

Auf dem früheren Meierei-Bolle-Gelände nehmen wir im Scusi unser Flaniermahl ein, aber das Saltimbocca-Fleisch ist zu fest, fast zäh, ich plädiere für eine Scusi-Pause bei weiteren Stadtrundgängen. Schön ist die Abendsonne, die das Innenministerium anstrahlt.

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(Textversion Dezember 2012)


Berlin am Wasser
Auf nach Paris