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An den Rand gedrängt


Stadtteil: Mitte
Bereich: Spandauer Vorstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Friedrichstraße 112 a
Datum: 31. Juli 2023
Bericht Nr.:813

In der oberen Friedrichstraße wurde 1909 durch den Bau einer Passage zur Oranienburger Straße ein Wohnhaus an den Rand gedrängt. Die Friedrichstraßen-Passage war der Versuch, das Geschäftsviertel südlich der "Linden" bis in die Spandauer Vorstadt nach Norden zu erweitern. Die Kaisergalerie hatte südlich der Linden einen neuen Maßstab gesetzt für Geschäftsbauten: Mit ihrem Bau wurde 1873 ein Straßenkarree durchschnitten, die Passage begann an der Friedrichstraße Ecke Behrenstraße und knickte dann zu Unter den Linden ab.

Vorbilder dafür gab es in anderen Metropolen wie Paris, London oder Mailand. Die Kaisergalerie wurde zur Besucher-Attraktion mit einer mit Glas überdachten Einkaufspassage, Cafés und Restaurants, Konzertsaal, Hotel, Büros. Allerdings hatte sie auch wirtschaftliche Schwierigkeiten, kämpfte mit Leerständen.

Friedrichstraßen-Passage
Entlang der Friedrichstraße entstanden danach weitere Geschäftsbauten bis hoch zum Bahnhof Friedrichstraße. Und ein Vergnügungsviertel bildete sich dort mit Theatern, Nachtbars, Restaurants, auch Straßenmädchen flanierten dort. Der Versuch, nach dem Beispiel der Kaisergalerie das Geschäftsviertel nördlich der Spree fortzusetzen, scheiterte bereits nach wenigen Jahren.


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Zwar war das Scheunenviertel als Wohnviertel schon von Postbauten wie dem Postfuhramt und der Telegrammaufnahme durchsetzt, eine Einkaufsmeile konnte sich aber nicht etablieren. Das erste Geschäftsjahr beendete die Kaufhausgesellschaft mit einen Betriebsverlust von 1,1 Mio. Mark. Nach Schließung des Warenhauses folgten mehrere Nachnutzungen, u.a. als "Showroom" der AEG.

Der Passagebau war architektonisch anspruchsvoll gestaltet: Der Durchgang mit Glas überdacht, im Zentrum eine gläserne Kuppel. Ausgestattet mit säulengestützten Rundbögen, Balustraden, Figuren auf den Portalpfeilern, Kandelabern. In dem Warenhaus mit einzelnen Geschäften wurden die Einkäufe auf einer Spiral-Gleitbahn zu den Zentralkassen im Keller befördert. Über eine Rohrpostanlagen waren die Kassen mit den Läden verbunden.


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In den Torbauten befanden sich Verkaufssäle, an der Friedrichstraße 112 eine Blumenhalle. Das Nachbargrundstück 112 a ("Zum Hufeisen") war von dem Durchbruch verschont geblieben, seine Geschichte wollen wir hier näher beleuchten.

Zunächst aber noch kurz zur weiteren Geschichte der Passage-Bauten. Nach Kriegsbeschädigung wurden die erhaltenen Bauteile in den 1980er Jahren von der DDR zum größten Teil gesprengt, auch der Kuppelbau. Erhalten blieb nur ein Torbau in der Oranienburger Straße, das Tacheles. Seitdem war die Oranienburger Straße als Ort der Passage im Bewusstsein und nicht mehr die Friedrichstraße. Das könnte sich jetzt wieder ändern, wenn der Passagen-Neubau wirklich als Einkaufsmeile angenommen wird.

Die gesamte Passage ist jetzt als "Am Tacheles" neu erstanden, an der Friedrichstraße hat sich der monumentale "Scape"-Bau an das Hufeisen-Haus gedrängt. Er nimmt in seiner Gestaltung keinerlei Beziehung zum Nachbarhaus und zu den typischen Geschäftsbauten dieser Straße auf.

Ursprünglich sollte das Hufeisen-Haus in den Neubau einbezogen werden, über die erste Planungsstufe kam die Idee aber nicht hinaus. Während der Bauzeit wurde das Haus als Durchgang zur Baustelle genutzt, jetzt ist es verbarrikadiert, vor der Hausfront hängt seit Jahren ein zerfetztes Schutznetz.

Hausnummerierung
Die Friedrichstraße hat 1705 ihren Namen erhalten, 1799 wurde die Hausnummerierung eingeführt. Die Passage trägt die Hausnummern 110 bis 112. Das angrenzende Hufeisenhaus ist Nr. 112 a, dessen links benachbartes Wohn- und Geschäftshaus Nr. 112 b. Eine Hausnummernergänzung ist immer dann erforderlich, wenn ein Grundstück geteilt werden soll, um darauf mehrere Häuser zu errichten. Das ist auch auf dem Grundstück 112 erfolgt, allerdings nicht im Zusammenhang mit dem Bau der Passage (1907), denn der Bau auf der 112 b steht dort bereits seit 1894. Das Baujahr des Hufeisenhauses wird ebenfalls mit "um 1900" angegeben, es stand also schon, als mit dem Bau der Passage begonnen wurde. Weichen musste aber das Haus 112, das ein "Tonhallen-Theater" und eine Stehbierhalle beherbergte.

Das Hufeisen
Am Giebel des Hauses 112 a findet sich der Schriftzug "Zum Hufeisen". Darüber ein Frauenkopf, locker von Haaren umflossen, mit Kopfschmuck (Diadem). Und schließlich als Krönung des Giebels ein Hufeisen als Relief, in dessen Innenfläche ein Sonnenaufgang zu sehen ist: Das Ganze ist ein Bildwerk aus der Zeit des Jugendstils mit mehreren Motiven.


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Aber der Grund für die Verwendung des Hufeisens bleibt im Verborgenen. In der Bauzeit haben Pferde in der Stadt Kutschen und Straßenbahnwagen gezogen, sie waren überall im Straßenbild vertreten, aber eine besondere Beziehung dieses Hauses zum Thema Pferde (Schmiede, Pferdestall) ist nicht ersichtlich. Auch zu dem nicht weit entfernten Tieranatomischen Theater, in dem Pferde seziert wurden, ist keine Beziehung sichtbar. Auch auf Legenden oder Anekdoten gibt es keinen Hinweis.

Vielleicht wurde das Hufeisen zum Schutz gegen böse Geister oder Naturkatastrophen (Blitzeinschlag, Gewitter) über den Hauseingang gehängt? Oder es könnte ein Glücksbringer sein. Allerdings sollte man das Hufeisen dann nicht - wie hier - mit der Öffnung nach unten aufhängen, sonst fällt das Glück heraus. Ob das Hufeisen am Giebel Aberglaube oder konkreter Bezug war, wir wissen es nicht.


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Das Hufeisenhaus
Das Hufeisenhaus ist ein Wohn- und Geschäftshaus mit einer Werksteinfassade. Ein Erker betont die Mitte des Hauses, er wird von dem vorstehend beschriebenen Jugendstil-Giebel gekrönt. Das Obergeschoss wird als Geschäftsetage baulich mit großen Fenstern betont. In dieser Etage befand sich eins von Berlins ältesten Kinos. Noch heute kann man den Namen des letzten Kinos über dem Hauseingang entdecken.

Im Erdgeschoss wird der Eingang zu den Geschäftsräumen mit einem Rundbogen hervorgehoben. Die Räume wurden für die Gastronomie genutzt, sei es Tanzlokal, Bar, Café, Club oder Pub. Im Adressbuch von 1910 ist unter dieser Adresse das Restaurant Zum Heidelberger Krug aufgeführt. In den 1920er Jahren gab es dort das Tanzlokal O.T. (Oranienburger Tor). Das Grand-Café bespielte das Erdgeschoss in den 1960er Jahren.

Dazu gehörte die Pudelbar, von deren sozialistischem Kollektiv bald mehrere Mitglieder wegen unsozialistischen Verhaltens ins Zuchthaus wanderten. Sie hatten 7.000mal Wein gepanscht und gute Lebensmittel gegen minderwertige ausgetauscht und dann auf eigene Rechnung verkauft. Dezent und seriös wurde es ab 1970 bei dem Nachfolger, der Tanzbar Friedrichstadt, die als Mehrzweckgaststätte auch Essen anbot.

Nach der Wende übernahm 1991 der erste echt-irische Pub im ehemaligen Ost-Berlin die Regie. Eine Weisheit von Oscar Wilde - dem Namensgeber - könnte Pate gestanden haben: "Ich schwärme für simple Vergnügen. Sie sind die letzte Zuflucht der Komplizierten". Für die Gäste gab es irischen Whiskey, Guinness und Live-Übertragungen von Sportereignissen. Die Räume nebenan übernahm 2010 der Club King Size, der für ausschweifende Nächte und jede Menge (Lokal-)Prominenz sorgte. Bis das Haus den Investoren des Passage-Wiederaufbaus in die Hände fiel und seitdem eine traurige Gestalt in der oberen Friedrichstraße abgibt.

Mehr als 100 Jahre Kinogeschichte
Das Obergeschoss hat eine wechselvolle Geschichte als Lichtspieltheater. Begonnen hat es 1908 als Kinematographentheater "Überbrettel". Mit dem „Kinematograph“ hatten die Bilder Laufen gelernt; das Bewegtbild eroberte nun die Welt. Kinematograph hieß das Vorführgerät, das gleichzeitig Kamera, Kopiermaschine und Projektor war.

Später hieß das Kino "Passage-Lichtspiele" und "Oranienburger-Tor-Lichtspiele". 1932 wurde es im orientalischen Design umgestaltet und nannte sich dann "Aladin". Nach der Wende wurde es von 1993 bis 2000 von der Yorck-Kino-Gruppe als Kino "Scala" betrieben. Diesen Namen kann man noch heute auf einem beschädigten Transparent über dem Hauseingang entziffern.


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Ein Kulturinvestor kauft das Hufeisenhaus
Kinofreunde um den Filmemacher Wim Wenders wollten das seit dem Jahr 2000 verlassene Kino neu beleben, sie sind aber von den Investoren der neuen Passage nicht einmal zur Besichtigung des Kinosaals ins Haus gelassen worden. Sie hatten befürchtet, dass ein Stück Kinogeschichte verloren geht, aber vielleicht kommt alles ganz anders. Ein "Kulturinvestor" hat das Hufeisenhaus und das unscheinbare Nachbarhaus gekauft.

Yoram Roth hat eine Biografie, die sehr an Nicolas Berggrün erinnert, aber hoffentlich mit besserem Ausgang als bei Beggrün, der den notleidenden Karstadt-Konzern kaufte und dann fallenließ. Auch Roths jüdischer Vater floh vor den Nazis ins Exil, auch der Sohn pendelt zwischen New York und Berlin, managed sich selbst und lebt "in Rimowa" - im Koffer.

Yoram Roth ist an so vielen Unternehmungen beteiligt, dass man leicht den Überblick verliert: Galerien, Restaurants, Bars, tip-Magazin, Clärchens Ballhaus. Die Verbindung zur neuen Friedrichstraßen-Passage kam über das Tacheles. Dort zieht Fotografiska, ein Fotografie-Museum ein. An dem auf Fotokunst spezialisierten Museum ist er mehrheitlich beteiligt. Mal sehen, was er mit dem Hufeisenhaus vorhat.

Das unscheinbare Nachbarhaus
Zu den Mietern in den weiteren Etagen im Hufeisenhaus gehörten 1910 die Wach- und Schließgesellschaft, eine Verlagsgesellschaft, ein Hotel/Pensionat und die Wwe. (Witwe) Dellos. Im schmucklosen Nachbarhaus 112 b wurde 1910 das "Hotel Reichsadler" betrieben. Gegenwärtig dient das Nachbarhaus als Event-Location. Im Erdgeschoss ist gerade eine Bilderausstellung zu sehen, die die Möglichkeit bietet, nebenbei auch die Räumlichkeiten in Augenschein zu nehmen.

Das Haus 112 ist in der Passage aufgegangen
Über das Haus 112, das der Passage weichen musste, wird 1895 in der Publikation "Berliner Amüsements: originelle und pikante Skizzen über das Leben und Treiben in den Berliner Vergnügungs-Lokalen" berichtet:

"Die Stehbierhalle G. Braatz in der Friedrichstrasse 112 hat etwas Originelles zu bieten, über das sich zu berichten lohnt" (Anmerkung: vielleicht war dieser Beitrag auch einfach nur Schleichwerbung): "Der frühere Besitzer, der allgemein beliebte Herr Otto Kieser hat es verstanden, ein lustiges Völkchen. Männlein und Weiblein, als Stammgäste für sein Lokal zu gewinnen: die Artisten. Allabendlich nach Schluss der Vorstellungen versammelt sich in der gemütlichen Stehbierhalle, die im Hause der bekannten Tonhalle liegt, die fidele Gesellschaft.

(weiter in der Beschreibung von 1895:)
Der neue Wirt, Herr Gustav Braatz. fuhrt das Lokal im Sinne seines Vorgängers weiter. Insbesondere bietet er eine vorzügliche Berliner Weisse, für deren Behandlung Herr Braatz infolge seiner langjährigen Thätigkeit in der bekannten Weissbierstube von Kortwig Sachverständiger ist. Aber auch andere Biere (helles aus der Brauerei Habel, Grätzer Bier); sowie die verschiedensten Liköre gelangen zum Ausschank. Die Küche ist durchaus lobenswert, auch fehlt es nicht an einer grossen Kollektion belegter Brötchen à la Aschinger".
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