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Gott ist ausgezogen, aber nur vorübergehend


Stadtteil: Kreuzberg
Bereich: Großbeerenstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Kleinbeerenstraße
Datum: 24. Mai 2023
Bericht Nr.:807

Die Geschichte einer Straße: Ein Klavierfabrikant produziert mehr als tausend Konzertflügel eines einzigen Modells, lässt eine Brücke über den Landwehrkanal bauen, legt eine öffentliche Straße über seine eigenen Grundstücke an und bezahlt deren Pflasterung auf einer Länge von mehr als einem Kilometer. Die Stadt findet das "zur Nachahmung empfohlen". Und wir laufen heute über diese Brücke und Straße und staunen, was alles in der Stadtentwicklung vor 150 Jahren möglich war.

Als noch die Stadtmauer (Akzisemauer) stand, endete Berlin am Halleschen Tor. Südlich der Mauer verlief ein Graben, der das Spreehochwasser von der Innenstadt fernhalten sollte. Dieser Schafsgraben (Landwehrgraben) diente gleichzeitig als natürliche Grenze zum Umland. 1850 wurde der Graben zur schiffbaren Wasserstraße ausgebaut, dem Landwehrkanal. 1861 folgte die Eingemeindung des südlichen Umlands bis zum Tempelhofer Feld - dem spätere Flughafen - nach Berlin. Seit 1920 gehört das Gebiet nördlich und südlich des Kanals zu Kreuzberg.

Mehrere Brücken stellten die Verbindung über den Landwehrkanal her. Um 1850 wurden die Möckernbrücke, die Hallesche Tor Brücke und die Schöneberger Brücke als hölzerne Klappbrücken gebaut. Diese Brücken wurden geöffnet, wenn Schiffe eine größere Durchfahrtshöhe brauchten. 1870 folgte mit der Großbeerenbrücke eine feste Holzbalkenbrücke mit steinernen Pfeilern mit drei Öffnungen für Schiffe. Um die nötige Durchfahrtshöhe zu erreichen, musste sie über dem Niveau der Straße angelegt werden, deshalb wurden Rampen aufgeschüttet.

Pianoforte-Fabrik
Aber wozu brauchte der "Hof-Pianoforte-Fabrikant Julius Theodor Stöcker" eine Brücke über den Landwehrkanal? Schauen wir uns zunächst seine eigentliche Profession an: Stöcker hatte sein Handwerk in Paris gelernt und gehörte in der Mitte des 19. Jahrhunderts zu den besten deutschen Klavierbauern. Seine Konzertflügel hatten einen fast glockenartigen Klang, waren "schön gleichmäßig klingend". Sie brachten größeren Obertonreichtum und mehr Klangfarben als andere hervor, zu ihrer Zeit haben sie einen "unerhörten Ruhm" genossen. Die feinere Akustik beruht auf dünnerem Resonanzboden, dünnerer Saitenstärke und weiteren Konstruktionsmerkmalen. Die Mechanik der Pianofortes ist "eigenthümlich und sehr compliciert": Die Saiten werden von oben angeschlagen und die Hämmer mittels eines komplizierten Federsystems wieder in die Ruhelage zurückgeführt. Die "Oberschlägigkeit" war in der Fertigung sehr teuer und wurde nur von wenigen Herstellern in Europa beherrscht.

Großbeerenbrücke, Großbeerenstraße
Theodor Stöcker hatte einen eigenen Konzertsaal in der Kochstraße, um sein Instrument im Konzert zu präsentieren und Kaufwillige zu begeistern. Seine Fabrik befand sich südlich des Landwehrkanals auf eigenem Grundstück. In dem Areal hatten Bauern ihre Weideflächen, außerdem waren dort eine Schraubenfabrik und eine Weberei mit Färberei angesiedelt, die wie er den Bauern Land abgekauft hatten. Im Lauf der Zeit kaufte Stöcker weiteres Land bis zur Yorckstraße hinzu und setzte sich intensiv dafür ein, die Großbeerenstraße anzulegen und die Großbeerenbrücke zu bauen. Die erhoffte Wertsteigerung sollte es ihm erlauben, seine Grundstücke mit hohem Gewinn an Bauwillige zu verkaufen.
Dafür war er bereit, die Straße über seine eigenen Grundstücke zu führen und den Bau der Brücke mit 20.000 Talern zu finanzieren (heute ca. 662.000 Euro). Nachdem er mühsam weitere Anlieger von seinem Straßendurchlegungs-Projekt überzeugt hatte, war auch die Stadt damit einverstanden, weil Stöcker auch die Kosten der Straßenpflasterung übernahm.

Noch heute findet man manchmal in der Stadt erhalten gebliebene Straßenabschnitte, die so wie damals die Großbeerenstraße in der Mitte Kopfsteinpflaster und am Rand Feldsteine aufweisen.

1873 war die Großbeerenstraße in ihrer ganzen Länge von 1,2 km bis zum Kreuzberg vollendet, Stöcker konnte sich noch fünf Jahre daran erfreuen, bevor er starb.


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Bauten an der Großbeerenstraße
Gekauft wurden die Grundstücke an der Großbeerenstraße überwiegend von Handwerksmeistern, die sie bebauten und meist mit spekulativem Gewinn weiter veräußerten. Dieses Vorgehen der an Baugewerkschulen architektenähnlich ausgebildeten Handwerksmeister haben wir an vielen Beispielen in der Stadt gesehen, sie waren typisch in der Zeit bis nach 1900. Man spricht heute von "Maurermeisterarchitektur" gehobenen Standards. In diesen vier- bis fünfgeschossigen Mietshäusern wohnten Offiziere, höhere Beamten, Wissenschaftler, selbständige Kaufleute, Ärzte. Die Bauten erhielten stattliche Fassaden mit bildhauerischem Schmuck wie Reliefs und Stuckaturen, mit Portal- und Fensterrahmungen, Gesimsbändern.

Ein Beispiel ist das Mietshaus Großbeerenstraße Ecke Tempelhofer Ufer 12, auf einem Grundstück, das einst dem Klavierfabrikanten Stöcker gehört hatte. Einen Grundstücksstreifen hatte er für die Anlage der Großbeerenstraße an die Stadt abgetreten. Das Haus gehört zum Ensemble von repräsentativen Mietshäusern und Gewerbebauten am Südufer des Landwehrkanals, das sein ursprüngliches Erscheinungsbild weitgehend bewahrt hat.


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In einem der Höfe dieses Ensembles am Tempelhofer Ufer ist eine kleine Fabrikanlage aus Geschoss- und Flachbauten mit einem Schornstein erhalten geblieben. Die Backsteingebäude dienten als Schmiede und Fabrik für Eisenkonstruktionen.

Tief im Innenhof des ausgedehnten Straßenkarrees Kreuzbergstraße/Großbeerenstraße findet sich eine Werkstatt, die Oldtimern neues Leben einhaucht. Das Areal weist die Kreuzberger Mischung von Wohnen im Vorderhaus und kleinen Fabriken im Hofbereich auf, so tief im Innenbereich versteckt sich aber selten ein Betrieb.

Zu kleinen Fabrikbauten im Hofbereich gehören die Fachwerk- und Holzhäuser eines Zimmermeisters in der Großbeerenstraße 71. Die zwei- bis dreigeschossigen vorstädtisch anmutenden Häuser wurden inzwischen vollständig verglast und um einen Anbau erweitert. Das weitere Fabrikgebäude auf dem Hof aus roten Klinkersteinen hat einen Innenausbau aus gusseisernen Stützen, die Decken sind als preußische Kappendecken ausgebildet.


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Aus der Reihe der zurückhaltend klassizistisch dekorierten Mietshäuser in der Großbeerenstraße heben sich mehrere Bauten besonders ab. Die Mietshäuser Großbeerenstraße 13 a und 14 liegen an einem gemeinsamen Hof mit kleinen Pferdestallungen. Die Gebäude weisen einen reichhaltigen Fassadenschmuck auf, in den Treppenhäusern finden sich Wandmalereien und Stuckdekor. Die Großwohnungen gingen bis zu ihrer späteren Teilung jeweils über die ganze Etage.

Auch das Gebäude in der Großbeerenstraße 24 im Neorenaissancestil mit einem Säulenportal wurde von einem Maurermeister entworfen und gebaut. In den vier Wohngeschossen waren ursprünglich Sieben-Zimmer-Wohnungen vorhanden, das Souterrain enthielt die Portierswohnung. Auch hier gehört ein großer Hofgarten zur Anlage.

Auch die Wohnanlage "Riehmers Hofgarten" wird von der Großbeerenstraße flankiert. Dort hat ein Maurermeister einen Wohnkomplex mit herrschaftlichem Gepräge geschaffen, der ein Vorbild für genossenschaftliche und private Wohnanlagen jener Zeit wurde. Innenliegende Privatstraßen erschließen die Anlage, auch im Hofbereich sind die Fassaden palastartig gestaltet.


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St. Gertraudt-Stiftung
An der Ecke Wartenburgstraße hat die St. Gertraudt-Stiftung 1873 ein Wohnheim errichtet, als Ersatz für das 1411 am Spittelmarkt erbaute St. Gertrauden-Hospital, aus dem sie ausziehen musste. Anfangs war das Hospital am Spittelmarkt "adligen Fräulein zum Unterhalt und Obdach bestimmt“, später stand es auch bürgerlichen Kreisen offen. Der Neubau in Kreuzberg war für 144 ältere Frauen ausgelegt. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Hospital in ein Krankenhaus umgewandelt und von der Stadt übernommen.

Den Bau in der Wartenburgstraße zeichnet eine "erhabene Formgebung" aus. Das Gebäude aus gelben Ziegeln lehnt sich an Formen der italienischen Renaissance an. Drei Gebäudeflügel umschließen einen Ehrenhof, die Seitenflügel sind zur Straße halbkreisförmig vorgewölbt. 2005 kaufte ein Investor das Anwesen und baute es in 100 Eigentumswohnungen mit mehr als 11.000 qm Wohnfläche um. Für die "anspruchsvolle und detailgetreue Umwidmung der historischen Bausubstanz" erhielt er den "Deutschen Bauherrenpreis".


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Wolkenkratzer
Einem New-Yorker Wolkenkratzer ähnlich - dem Seagram-Building von Mies van der Rohe - steht am Halleschen Ufer Ecke Großbeerenstraße das Postscheckamt. Das 89 Meter hohe Gebäude ist ein Stahlskelettbau mit einer grauen Vorhangfassade aus Aluminium und Glas. Das kleinteilig parzellierte Gelände südlich der Kleinbeerenstraße wurde für die Neubebauung in den 1960er Jahren abgeräumt, auf dem weiträumigen Vorplatz wurden Bauten für Heizwerk, Rechenzentrum und Schalterhalle untergebracht.

Inzwischen hat auch die Nachfolgerin Postbank den Gebäudekomplex aufgegeben. Die "Macherei" wird als Investor die auf dem Gelände geplanten Neubauten realisieren. Ihren befremdlichen Projektnamen leitet sie ab von "machen - mag - kneten" und findet, das sei ein "grundsolider Gedanke". Also knetet sie hier die Zukunft des Areals? Aus ihrem Maklersprech stammen auch die Aussagen "grüne Momente im Alltag, Flexibilität, Vernetzung und Wohlbefinden". Zurzeit sind im Bau ein Holz-Hybrid-Gebäude mit 8 Etagen und ein weiteres Bürohaus, ebenfalls mit 8 Etagen. Der leerstehende Wolkenkratzer soll "revitalisiert" werden.

Gott ist ausgezogen, aber nur vorübergehend
Die evangelische Christus-Kirche in der Hornstraße ist von einem Bauzaun umgeben, Aktivitäten sind nicht zu erkennen. "Lieber Gott! Wann wird die Kreuzberger Christus-Kirche fertig?" titelte die B.Z. im letzten Jahr, denn die Bauarbeiten dauern seit Jahren an. Sie sind jetzt nach der Renovierung der Fassade bei dem dreieckigen Kirchenschiff angekommen, das sich im Hof an das straßenseitige Gebäude anschließt.

Das Gebäude an der Hornstraße ist von der Straßenfront eingerückt. Dazu gehört ein freistehender Glockenturm aus Sichtbeton. Es ist ein zurückhaltender Bau der Nachkriegsmoderne, der erst im Kirchenschiff seine Farbigkeit entfaltet. Der Blick in dem dreieckigen Raum fokussiert sich auf den Altar vor einem der Eckpfeiler. Auch die farbigen Glasbetonwände streben auf diesen Brennpunkt zu.


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Mit einem Blick auf die Gebäudefront von Riehmers Hofgarten endet das Flanieren vor einem Café an der Großbeerenstraße.
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Shitstorm der Müllbehälter
Ein Bahnhof ist virtuell auferstanden