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Zwischen Strapsen geboren


Stadtteil: Charlottenburg
Bereich: Zoo bis Amtsgerichtsplatz
Stadtplanaufruf: Berlin, Savignyplatz
Datum: 29. September 2014
Bericht Nr: 480

Hier ist die Zeit stehen geblieben. In der Charlottenburger Kantstraße gibt es mehrere Fachgeschäfte, die in der Vorkriegszeit oder sogar schon im Kaiserreich gegründet wurden. Sie verkaufen ihre Waren wie zur Zeit ihrer Entstehung, Jahrzehnte scheinen an ihnen vorüber gegangen zu sein. In den Schaufenstern sieht man keine Konsum-Botschaften, sondern eine Auswahl ihrer Produkte. Hier geht man nicht Shoppen in einer Erlebniswelt, sondern kauft Gegenstände zur unmittelbaren Bedürfnisbefriedigung. Und doch oder gerade deswegen ist es ein besonderes Erlebnis, hier einzukaufen.

Korsett-Engelke
Es gibt in Berlin eine Frau, die "weiß alles über Frauenkörper jenseits der Standardgrößen". In ihrem Laden "Korsett-Engelke" bedient sie mit ihrer Tochter zusammen "Damen, die mit mehr gesegnet sind", und damit ist vor allem die Oberweite gemeint. Mit erfahrenem Blick sieht sie sofort, welche Größe hier gebraucht wird, sie hat ein Maßband im Auge, sagt sie. Und wenn eine Dame zu große Körbchen verlangt, kann sie auch schon mal fragen: "Was wollen Sie denn da reintun?". Ihr Vater hatte das Geschäft 1935 gegründet, das dann vor fünfzig Jahren zur Kantstraße umzog. Ihre Mutter arbeitete im Laden mit, sie selbst ist "mitten in den Strapsen geboren", ihre Tochter ist als dritte fachkundige Generation dabei. In dem ziemlich unmodernen Laden sind Pappkartons übereinander gestapelt, im Schaufenster sind Mieder aufgebahrt und aufgehängt, von Gebinden aus künstlichen Blumen umgeben. Einschlägige Internetmagazine wie Busenfreundinnen, Pfundich, Dicke Welten oder "Drüber und drunter" schreiben liebevolle Berichte über die Inhaberinnen, die gute Beratung und den kleine Ladenraum, der bis oben hin vollgestopft ist mit handbeschrifteten Schachteln in denen sich BHs, Höschen und Korsetts befinden.

Parfumeur
Direkt nebenan ist der Laden eines Parfumeurs. So mörderisch wie in Patrick Süskinds Roman "Das Parfum" geht es hier nicht zu, der Inhaber nutzt seinen begnadeten Geruchssinn, um Düfte auf ungewöhnliche Weise an seine Kunden zu bringen. Der Großvater von Lutz Lehmann gründete die kleine Parfumfabrik 1926, auch sie ist vor fünfzig Jahren in die Kantstraße gezogen. Seine individuelle Duftkomposition kann man sich aus rund hundert Düften zusammenstellen lassen. "Parfum nach Gewicht" ist die Besonderheit dieses Parfumeurs, für eine ganz einzigartige individuelle Komposition muss man keinen Markennamen mitbezahlen.

C.Adolph
Wie konnte ein Eisenwarenladen die Jahre seit 1898 unbeschadet überstehen? C.Adolph lebt nicht mehr, aber sein Laden in der Kantstraße am Savignyplatz verkauft immer noch Schrauben, Bohrer, Riegel, Scharniere, Rollen und den ganzen Eisenwaren-Krimskrams. Aus den raumhohen Schubkastenschränken von 1898, deren Ordnungsprinzip nur die Menschen hinter dem Tresen kennen, geben sie die Teile stückweise heraus, die man im Baumarkt immer in ganzen Gebinden kaufen muss. Natürlich gibt es auch Werkzeuge, Küchengeräte, alle "Wirtschaftsartikel", was auch immer das sein mag, im Winter auch Schlitten. Und Zubehör, das Bühnentechniker brauchen. Was gerade nicht aktuell ist, wird in den Lagerräumen im Hof aufbewahrt. Betriebswirte würden den Kopf schütteln, was hier alles im Lager liegt, aber der Inhaber Savary hat seine eigene Theorie: "Totes Kapital gibt es bei uns nicht". Man wartet ab, irgendwann wird es verkauft, denn was man woanders nicht bekommen kann, das findet man bei C.Adolph.

Gebr.Tonsor
Und noch ein Urgestein, ein Farbenladen, Gebr.Tonsor an der Ecke Wielandstraße. Kann man mit dem Verkauf von Farben gegen die Baumärkte bestehen? Man kann, das Geheimnis ist auch hier Individualität. Wenn für eine Ausstellung im Haus am Waldsee eine Wand mit einer Farbe von Tonsor gestrichen wird, dann muss da schon was dran sein. Farrow and Ball, zwei englische Apotheker, haben vor siebzig Jahren mit Farben experimentiert, die ausschließlich aus natürlichen Stoffen bestehen. Das Ergebnis war eine unglaubliche Farbtiefe und kreidige Mattigkeit, die mit Pigmenten und Harzen und Zusätzen wie Kreide, Kalkteig, Leinsamenöl und Kaolin erreicht werden konnte.

Durch Zufall sind die beiden Tonsors, die jetzt das Geschäft führen, mit dem englischen Hersteller in Berührung gekommen. Wenn Gebr.Tonsor als "Farbtankstelle" apostrophiert wird, dann könnte man darunter Massenware verstehen, aber das ist es sicherlich nicht. Die braunen Farbdosen mit der Bauchbinde haben eine Kundin vermuten lassen: "Ach, verkaufen Sie jetzt auch Kaffee?", aber das brauchen sie nicht, denn mit diesen Farben haben sie ihren Weg gefunden.

Leiser-Schuhe
Schuhe kaufte man in Berlin bei Leiser. Oder Stiller oder Wielant oder Neumann, aber das ist auch alles Leiser. Leiser war Berlins größter Schuhhändler, 1891 gegründet. Fünfzehn Jahre später eröffnete man kess in der Tauentzienstraße neben dem KaDeWe Berlins größtes Schuhgeschäft, das heute noch besteht.

Nach Kriegseinbußen, Eigentumswechseln und überstandener Insolvenz gibt es immer noch 20 Filialen in Berlin. Eine davon verkauft ihre Schuhe in einem markanten Fünfzigerjahre-Eckhaus an der Wilmersdorfer Straße, einem Baudenkmal der Nachkriegsmoderne. Dieses Gebäude öffnet den Weg in die Einkaufsmeile Wilmersdorfer Straße, vielleicht Berlins älteste Einkaufsstraße, die trotz Umbauten und Kiezmanagement nicht attraktiv wird, sie bleibt die Einkaufsstraße des kleinen Mannes (1).

Chinatown
Die Kantstraße ist nicht nur wegen ihrer besonderen Fachgeschäfte interessant. Sie ist eine Designmeile, soweit die Ausstrahlung des Stilwerks an der Ecke Uhlandstraße reicht. Sie ist Chinatown zwischen Leibnizstraße und Wilmersdorfer Straße. So viele japanische, vietnamesische, thailändische und vor allem chinesische Geschäfte findet man nirgends sonst in der Stadt, entdeckte der Tagesspiegel, unzählige Restaurants gibt es hier, Lebensmittel-, Tee-, Möbel- und Pflanzenläden, Massage- und Nagelstudios.

Je weiter sich Kurfürstendamm und Kantstraße voneinander entfernen, umso mehr verliert sich die Attraktivität der Kantstraße fürs Shoppen und Flanieren. Was bleibt ist eine Vielfalt von Gründerzeitbauten mit phantasievollen Fassadendekorationen. Es lohnt sich für Architekturinteressierte, den Blick nach oben zu richten.

City West am der Gedächtniskirche
Mit ihrem Beginn an der Gedächtniskirche liegt die Kantstraße in der sich rasant wandelnden City-West (2). An der Ecke Joachimsthaler Straße gab es ein traditionsreiches Fachgeschäft, Berlins ältestes Sportfachgeschäft, die "Ski-Hütte", die aber in meiner Aufzählung nicht vorkommt, weil sie nach 90 Jahren den Abriss ihres Hauses nicht überstanden hat. Auch das Schimmelpfeng-Haus, das einst die Kantstraße überbrückt und das Gesicht des Breitscheidplatzes geprägt hat, ist abgebrochen worden. Hier entsteht das zweite Hochhaus der City West, mit 118 Metern genauso hoch wie der Neubau des "Zoofensters" mit dem Waldorf-Astoria-Hotel in der Joachimsthaler Straße. Aber vielleicht wird noch ein architektonischer Kunstgriff ein paar Meter Höhe hinzufügen, um den pubertären Wettbewerb um "den Größten" zu gewinnen. Beim Chrysler-Building in New York hatte es geholfen, eine im Innern verborgene Stahlspitze auszufahren, um im Höhenwettbewerb zu siegen (3). Das Hotel One soll in dieses neue Hochhaus „Upper West“ einziehen. Man kann hoffen, dass die Fassaden nicht so missgestaltet werden wie am Motel One ein paar Schritte weiter neben Theater des Westens.

Die schmuddelige "Passage am Zoo" in der Joachimsthaler Straße soll ebenfalls verschwinden, das Erotik-Museum von Beate Uhse (4) ist bereits ausgezogen und wird am KaDeWe wieder eröffnen. Die Passage zwischen Kantstraße und Kudamm ist dagegen weltstädtisch. Sie wird vom Kranzler am Kudamm und dem bilka-Kaufhaus an der Kantstraße (jetzt Karstadt Sport) eingerahmt. Der Kaufhaus-Bau aus den 1950er Jahren - ein Würfel mit Glaskuppel - gibt der Ecke ein unverwechselbares Gesicht. Es ist ein Luxus, dass das Gebäude mit nur zwei Kaufhausetagen auf diesem City-Grundstück überlebt hat, wieviel mehr Rendite hätte doch ein vielstöckiges Geschäftsgebäude gebracht. Doch dafür durfte der Innenbereich, der an Kudamm und Kantstraße andockt, bis zum S-Bahn-Viadukt mit einem 60 Meter hohen verglasten Scheibenhochhaus bebaut werden, dem Neuen Kranzler-Eck.

Delphi, Theater des Westens
An der Ecke Fasanenstraße sind in einem Bauensemble die darstellenden Künste zu Hause. Auf dem ehemaligen Kohlenplatz der Meierei C.Bolle schuf der Architekt Bernhard Sehring mit dem Theater des Westens eine Bühne für Oper, Operette, Musical, und Tanz; mit dem Delphi ein Tanzlokal, das nach dem Krieg zum Filmpalast und Berlinale-Spielort wurde. Walter Jonigkeit leitete das Kino und suchte noch im Alter von 100 Jahren die Filme aus. Im Keller unterhalb des Kinos führte die Vagantenbühne zeitgenössische und experimentelle Stücke wie "Die kahle Sängerin" und "Die Stühle" von Ionesco auf. Heute geht das Programm mehr Richtung "Berlin, ick liebe Dir". Das "Quasimodo" im Keller wurde zum Jazzlokal für Berlins Nachtschwärmer.

Auch für Fans der Currywurst hat die Kantstraße etwas zu bieten, schließlich verkaufte Herta Heuwer die von ihr erfundene Currywurst früher an ihrem Imbissstand Ecke Kaiser-Friedrich-Straße. Ihre Kreation von Wurst mit Ketchup nannte sie zunächst "Spandauer ohne Pelle". Heute ist eine der 10 besten Berliner Currywurstbuden Berlins der Pavillon Haseneck am Savignyplatz, benannt nach dem Inhaber Hasenecker. So können die Bohemiens vom Savignyplatz ihren "Lebensretter auf dem Weg nach Hause" genießen. Den Champagner mitsamt Currywurst gibt es nur am Kurfürstendamm, aber da zählt der Reiz des Ausgeflipptseins mehr als der Geschmack der Wurst.

Kant-Garagen-Palast
Und dann ist noch von einer Architektur-Ikone zu sprechen, um die zurzeit heftig gerungen wird. Der Kant-Garagen-Palast wurde 1930 als Hochgarage eröffnet, heute ist der immer noch in seiner ursprünglichen Funktion genutzte Bau einmalig in Europa. In der Chausseestraße in Mitte errichtete die AG für Automobilunternehmen bereits 1914 eine Hochgarage im Hinterhof, die allerdings später zu Wohnungen umgebaut wurde (5). Die Kantgaragen sind durch Fensterfronten zur Straße und zum Hof gut belichtet, gleichzeitig prägt diese Fassade den Bau aus Eisenbeton im Stil der Neuen Sachlichkeit. Das damals besondere aber sind die Auffahrten zu den Etagen. Man fährt im Kreis und muss das einmal eingeschlagene Lenkrad kaum bewegen, die Rampen sind gewendelt. Und man begegnet sich nicht, denn am einen Ende führt eine Rampe nach oben, am anderen Ende eine nach unten. Für den ungeübten Fahrer stand früher am Beginn der Rampe die Aufforderung angeschrieben: "1.Gang einschalten. Scharf rechts halten". In den Etagen sind 200 Einzelboxen mit Metalltüren an den Längsseiten angeordnet. Weitere 100 Fahrzeuge können in Sammelboxen abgestellt werden. Von den geplanten 8 Etagen wurden nur 6 tatsächlich realisiert. Inspiriert wurde die Bauform mit den beiden gegenläufigen Rampen angeblich durch ein Schloss an der Loire, das eine doppelläufige Treppe aufweist.

Justizgebäude
Am oberen Ende der Kantstraße steht ein ehemaliges Justizgebäude mit Sitzungssälen, Verwaltungsräumen und einem Gefängnistrakt im Hinterhof leer. Es ist ganz von Wohnhäusern umgeben und in die Blockrandbebauung integriert. Eine Nachnutzung durch Umbau zu Wohnungen ist schon im Vorderhaus schwierig wegen der Treppen und Gänge, die viel Fläche einnehmen. Erbaut wurde es kurz vor 1900, damit das Amtsgericht seine Strafabteilungen auslagern konnte. Im Dritten Reich waren hier Frauen inhaftiert, die Widerstandsgruppen gegen Hitler angehörten. Zuletzt wurde es als Grundbuchamt genutzt.

Wir sind damit am oberen Ende der Kantstraße angekommen und gehen zum Griechen am Amtsgerichtsplatz, um unser Flaniermahl einzunehmen. Dieses Lokal ist auch eine Institution, es hält sich seit drei Jahrzehnten an diesem Platz, so sesshaft und lebensfähig wie die Fachgeschäfte, die wir beim Flanieren gesehen haben.

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(1) Mehr über die Wilmersdorfer Straße: Glockenspiel auf dem Shoppingcenter
(2) Die Wandlungen der City West: Solange es diese Zoogegend noch gibt
(3) Höhenwettbewerb beim Bauen: Versuchsstrecke für Automobile
(4) Erotik-Museum von Beate Uhse: Erotik-Mus im Mövenpi
(5) Hochgarage an der Chausseestraße: Hosenbandorden auf dem Hinterhof

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... ACHTUNG, es folgen DREI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Kant-Garagen-Palast

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Unsere Route
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Kirche und Moschee in Farbe
Deutsch-russische Verbundenheit