Muckefuck und die Kaffeeriecher vom Alten Fritz

Stadtteil: Köpenick
Bereich: Dammvorstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Parrisiusstraße
Datum: 29. Juli 2019
Bericht Nr.: 662


"Ich bin verliebt / mein Herz rast vor Glück
komm mit mir nach Köpenick"

Beim Verlassen des Bahnhofsgebäudes wird der Text des Köpenicker Rappers Romano an der Wand sichtbar. Was für ein Typ: Ein Gesicht wie Wladimir Putin, zwei geflochtene Zöpfe wie Pippi Langstrumpf, das ist "der Junge von der Ecke, der in der kalten Betonstadt Berlin zum Kultur-Junkie mutierte". Als Kleinkind auf dem Arm seines Vaters hat er bereits Beatboxgeräusche gemacht, aber “ksch, peh, ksch, peh” brabbeln andere Babys auch. Und seine Mutter hat beim Rias die Schlagersendungen vom "alten Ami" Rik De Lisle (sprich: Rick Die-leih-lie) gehört. Diese Mischung - so will es die Legende - verbindet sich in ihm zu aggressivem, rauem Rap; gleichzeitig kann er als Schlagersänger "schunkelnde Omis mit seinen Liedern verzücken".

So eingestimmt betreten wir in "seinem Köpenick" die Dammvorstadt zwischen Bahnhof und Altstadt. Unseren früheren Spaziergang in einem anderen Teil der Dammvorstadt sollten Sie zu Rate ziehen, wenn Sie ein vollständiges Bild erhalten wollen.

Dammvorstadt
Am Maria-Jankowski-Park haben Archäologen 2016 Ausgrabungen vor einem halb verfallenen Wohnhaus vorgenommen, und dabei Spuren einer "barockzeitlichen Gartenanlage mit rechtwinkliger Beetstruktur" und einige wenige Gebrauchsgegenstände gefunden, beispielsweise Tonpfeifen und einen Teller mit Hirschmotiv. Mehr historische Bezüge stellt das Wohnhaus selbst her, das in die Zeit der Besiedlung der Dammvorstadt in den 1860er Jahren zurückführt. Der Fabrikant Friedrich Wilhelm Ötting baute hier eine Zichorienfabrik (dazu später mehr), Wohnhäuser für die Arbeiter und dieses eigene Wohnhaus.

Mit seinen Bauten hat der Fabrikant Ötting den wesentlichen Impuls zur Entwicklung der Dammvorstadt gegeben. Auf Höhe der heutigen Dammbrücke verlief der namensgebende Erdwall. Ötting kaufte einem Kalkbrenner das Gelände nördlich der Spree ab und baute dort außer der Zichorienfabrik eine Zuckersiederei auf, eine Sirupkocherei und eine Stärkemehlfabrik. Später folgten andere Gründer mit Chemie- und Metallwarenfabriken.

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Entlang der Bahnhofstraße begann die Wohnbebauung. Das Bankhaus Soergel, Parrisius & Co betätigte sich östlich der Bahnhofstraße als Terrainentwickler, legte neue Straßen an und errichtete Miethauszeilen. Es war eine Genossenschaftsbank, die sich auf Kreditvereine stützte. Laut Satzung durfte sie keine Börsenspekulation betreiben. Die Tätigkeit als Terrainentwickler hatte wohl auch keine spekulativen Züge, weil man sich auf eigene Miethäuser begrenzte.

Kaffee und Muckefuck
In Öttings Zichorienfabrik wurde Muckefuck hergestellt, Ersatzkaffee aus den Wurzel der Gemeinen Wegwarte (Muckefuck von franz. Mocca faux, falscher Kaffee). Friedrich der Große hatte dem Import von echtem Übersee-Kaffee den Kampf angesagt und ein staatliches Kaffeemonopol eingerichtet, um seine Handelsbilanz zu verbessern. Lieber hätte er gehabt, dass sein Volk Biersuppe zu sich nimmt, er sei "höchstselbst in der Jugend mit Biersuppe aufgezogen" worden und das sei viel gesünder als Kaffee.

Natürlich blühte der Schwarzhandel mit Kaffee, doch dafür hatte Friedrich der Große ein Gegenmittel. Er ließ 400 dienstentlassene französische Soldaten als "Kaffeeriecher" einstellen, die natürlich schnell zu den meistgehassten Staatsdienern im Land wurden. Es waren "Rüpel, die ihre Nase in jedes Haus stecken durften". Sie konnten Räume durchsuchen und Strafen festlegen. So konnte es vorkommen, dass bei unbescholtenen Bürgern "uniformierte Männer in die Stube stürmten und die Küche auf den Kopf stellten". Zu ihrem guten Gehalt bekamen sie Prämien für erschnüffelten Kaffee. Es war ein verlorener Kampf wie bei der Seidenraupenzucht, die der Alte Fritz seinen Untertanen mit Druck und mit Subventionen verordnete - nach seinem Tod wurden Kaffeemonopol und Seidenraupenzucht abgeschafft.

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Neubauten an der Fabrikantenvilla
Das halb verfallene Wohnhaus des Fabrikanten Ötting soll instand gesetzt werden, ein Nebengebäude (Landarbeiterhaus) ist bereits verschwunden, es konnte laut Bebauungsplan "wegen stark maroden Zustandes nicht erhalten werden". Die Neubauten sollen um die Fabrikantenvilla so gruppiert werden, dass sie von allen Seiten sichtbar bleibt.

Das Wohnkonzept, das die Architekten vorgestellt haben, ist Balsam für die Seele des Stadtbewohners, der von phantasielosen Neubauten gelangweilt und erdrückt wird. Hoffen wir, dass es keine Architektenprosa bleibt. Der Wohnungsbau soll sich am Leben der zukünftigen Bewohner orientieren: "Hunderte von Millionen Euro werden in falschen Bauten versenkt, um Lebensentwürfe und Bewohner herum gebaut, die es gar nicht gibt", schreiben die Architekten. Und: "Wir kennen keine überzeugende Bauform, in der sechs Achtzigjährige, die nicht in ein Altenheim ziehen wollen, zusammen leben könnten".

Ihre Wohnräume gruppieren die Architekten um Wohnküchen. Was einstmals aus Not in der Enge proletarischer Wohnungen in Mietskasernen üblich war, ist in den 1970er Jahren als eigenständige alternative Wohnform neu belebt worden und danach zum Mainstream geworden, der im Mietspiegel als werterhöhend eingestuft wird. Warum eigentlich gehören Wohnküchen nicht selbstverständlich zum möglichen Neubaustandard? Den Namen "Kraft Mossmann Architekten" kann man sich schon mal merken.

Köpenick im Dunkeln
Dem Köpenicker Heimatmuseum ist in diesen Tagen ein neues Schaustück überreicht worden, das symbolisch für grenzenlose Dummheit steht - ein angebohrtes Stromkabel, das vom Umspannwerk Gelnitzstraße zur Salvador-Allende-Brücke verlief. Im Februar war für zwei Tage in Köpenick der Strom ausgefallen, der Ortsteil lag im Dunkeln und die Bewohner saßen im Kalten. Straßenbahnen fuhren nicht mehr, Festnetz und Handys fielen aus, Schulen machten dicht (hurra!).

Feuerwehr und BVG starteten einen für Berlin ungewöhnlichen Versuch: Die Busfahrer der BVG - die nicht als sehr mitteilsam und zugewandt gelten - wurden als Kommunikatoren eingesetzt, um die Bevölkerung über die Lage zu informieren. Ausgelöst wurde der Blackout von einer Baufirma, einem Subunternehmer, der sich über den Verlauf des Stromkabels nicht informiert hatte: "Die haben gebohrt, ohne zu wissen, wo sie bohren". Dass sie die Pläne beim Auftraggeber nicht eingesehen hatten, war bis dahin niemandem aufgefallen.

Schlösschen Bellevue
Köpenick hat nicht nur ein Schloss, es hatte auch ein Schlösschen im Bellevuepark, das aber nach Kriegsbeschädigung abgerissen wurde. In dem Schlösschen war auch Theodor Fontane zu Gast zu einem Sommeraufenthalt 1852. Er schrieb in der "Gartenlaube" über den "entzückenden Landaufenthalt, zwei Meilen von Berlin. In der Nähe der Müggelberge, deren Kuppe in den Parkgarten hineinblickte, lag, nach drei Seiten hin von Tannen umstellt, ein alter Schloßbau, dessen einzig freie Front auf Blumenbeete und Kornfeldstreifen und dahinter auf die breite Wasserfläche der wendischen Spree hinaussah. In diesem alten Schloßbau, angesichts einer Szenerie voll eigentümlich märkischer Schönheit, verbrachte man glückliche Tage".

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Zwischen Bellevuepark und Seelenbinderstraße fließt die Alte Erpe als Bellevuegraben durch Köpenick und endet in der Spree. Die Erpe ist als Überschwemmungsgebiet (Rückstaugebiet für Hochwasser) festgelegt worden, genau wie Neu-Venedig in Rahnsdorf, damit soll das Hochwasserrisiko in der Stadt vermindert werden. Umgeben ist der Bellevuegraben von üppiger Vegetation. Es ist fast ein kleiner Urwald mit einem Wanderweg, an dem plötzlich eine Skateranlage auftaucht und eine bunkerartige Betonbefestigung. Weiter südlich öffnet die Landschaft wieder zum Städtischen.

Weinbergstraße
In Berlin wurde rund zweihundert Jahre lang bis in die 1740er Jahre hinein Weinanbau betrieben, viele Straßenbezeichnungen erinnern an diese Zeiten. Auch in Köpenick gab es einen Weinberg, die Weinbergstraße in der Dammvorstadt bezieht sich darauf. Er wurde Anfang des 20. Jahrhunderts abgetragen und für die Kalksandsteinfabrikation in einer benachbarten Produktionsstätte an der Spree genutzt.

Rohkalk wurde per Schiff von den Rüdersdorfer Kalksteinbrüchen zu den Öfen transportiert, die daraus Mauer-, Schamott- und Kalksteine, Zement, Gips und Kalk herstellten. An der Friedrichshagener Straße ist ein Kalkofen erhalten, ein 22 Meter hohes kegelförmiges Industriedenkmal am Spreeufer.


Am Bahnhof Köpenick vermissen wir zum Abschluss unserer Wanderung ein Café. Stattdessen herrscht Gewusel rund um den Bahnhof, die Stände und die Straßenbahnhaltestellen. Vor einem Bäcker sitzen wir schließlich am Straßenrand beim Milchkaffee und stellen uns vor, der Grünzug an der Erpe würde sich bis hierher erstrecken.

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Unsere Route:
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Geschichte kann man nicht erfinden
Christus klopft an