Bei Unvernunft droht Folter

Stadtteil: Spandau
Bereich: Altstadt
Stadtplanaufruf: Berlin, Stabholzgarten
Datum: 11. November 2019
Bericht Nr.: 676

Hinter dem Rathaus Spandau verweist die Straße Stabholzgarten auf die Zeit, als Salz ein Luxusartikel war ("weißes Gold"), bevor es industriell hergestellt werden konnte. Für die Lagerung und den Transport des begehrten Gutes wurden Salzfässer aus Längshölzern hergestellt, die dann gebogen den Bauch des Fasses bildeten. Im drei Kilometer entfernten Salzhof von Haselhorst wurde das Holz geschlagen und dann auf Stabholz-Niederlagen wie hier nahe der Altstadt verbracht. Der Stabholzgarten - Garten meint hier Lagerplatz - wurde bis 1749 genutzt.

Batardeau
Die Spandauer Altstadtregion ist uns aus einigen Spaziergängen als Anschauungsobjekt von Festungsbauten vertraut. Am Stabholzgarten ist ein ungewöhnliches Bauwerk erhalten geblieben, ein Batardeau, mit dem der Wasserstand im Festungsgraben reguliert wurde.

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Eine zwei Meter dicke Mauer aus Ziegelsteinen stemmt sich zwischen Havel und Festungsgraben, mit Wasserdurchlässen wird der Zufluss zum Graben reguliert. Damit kein Feind über das Batardeau in die Festung kommt, wehrt ein runder Turm auf der Mauer den Zugang ab. Im rechten Winkel zur Staumauer schützt eine kleinere Mauer mit Schießscharten die Flanke der Anlage.

Stadtmauer
Der Festungsgraben - "Mühlengraben" - umfasst die Altstadt auf der westlichen Seite. Flankiert wird er vom Victoria-Ufer, dessen früherer Name "An der Mauer" auf die Stadtmauer verweist, von der hier ein Stück von 116 Metern Länge erhalten geblieben ist. Über dem Feldsteinsockel besteht die drei Meter hohe Mauer aus Ziegelsteinen. Im Jahr 1920 wurde die historische Stadtmauer mit einem Ziegelsatteldach und einem Rundturm am Ende entstellt. In die Innenseite der Stadtmauer sind 22 Pferdeboxen integriert worden, die heute von einer "Kunstremise" bespielt werden.

Unvernunft
Parallel zum südlichen Teil des Mühlengrabens verläuft die Mauerstraße, die von 1728 bis 1800 "Unvernunft" hieß. Der Name leitete sich von der Scharfrichterei in dieser Straße ab. Der Scharfrichter wurde nach der "Peinlichen Gerichtsordnung Kaiser Karls V." bei Kapitalverbrechen tätig, wenn es einen dringenden Tatverdacht gegen den Angeschuldigten gab und er nicht gestand. Der Scharfrichter zeigte dem Delinquenten seine Werkzeuge wie Daumenschrauben, spanische Stiefel, Schwefelfäden, Mannheimer Bock, Lüneburgischer Stuhl, Halskragen, Pommersche Mütze, Folter mit dem Feuer und ähnliches - nicht zum Aussuchen, sondern zur Warnung. Hatte ihn das nicht beeindruckt und zum Geständnis gebracht, kam er in die Folterkammer. Überstand der Gefolterte die Tortur, ohne zu gestehen, dann galt er als unschuldig. Es wäre ja unvernünftig, sich foltern zu lassen, wenn man schuldig war.

Auch in der Neustadt gab es eine merkwürdige Straßenbenennung, die aber nicht amtlich war. Der "Schwarzer-Peter-Weg" wurde im Volksmund so genannt, weil ein Wachposten am Pulvermagazin regelmäßig von einem schwarzen Kater besucht wurde.

Jüdenstraße
Auf die jüdische Gemeinde, die schon im Mittelalter in Spandau bestand, weist die Jüdenstraße hin. Ein Brand im Jahre 1620 zerstörte alle Häuser. Nach Umbenennung in der Nazizeit trägt sie wieder ihren alten Namen. Allerdings hat man für die Rückbenennung in der Nachkriegszeit 57 Jahre gebraucht.

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Das Fachwerkhaus Ecke Ritterstraße wird "Wendenschloss" genannt. Es ist nur Fassade und enthält keinen historischen Kern. Im 17. Jahrhundert wurde es als Ackerbürgerhaus gebaut. Wegen Baufälligkeit hat man es 1966 abgerissen. Die Nikolaigemeinde der evangelischen Kirche errichtete auf dem Grundstück einen Neubau, dem eine Fachwerkfassade im Stil des historischen Gebäudes vorgeblendet wurde.

Das Postgebäude
Das Postamt hatte 1890 in der Carl-Schurz-Straße seinen endgültigen Standort gefunden, nachdem es vorher in den Häusern eine Postfuhrunternehmers, eines pensionierten Landreiters und des Pfarrers untergekommen war. Das Fernsprechamt im Hause begann mit 16 Teilnehmern. Später kam noch ein Paketamt hinzu. Bis 1900 gab es in Spandau sogar ein privates Konkurrenzunternehmen zur Briefzustellung, den "Stadt-Brief-Beförderungs-Courier". Wie modern! Das Postgebäude wird heute nicht mehr zu seinem ursprünglichen Zweck genutzt, auch das entspricht einem Trend unserer Zeit.

Potsdamer Tor
Direkt neben dem Postgebäude treffen wir wieder auf den Mühlengraben. Eine Wassermühle auf der gegenüberliegenden Seite hatte bis 1962 das Korn für die Spandauer Bauern gemahlen. Vor dem Graben stand bis 1907 das Potsdamer Tor in einem Knick zur Straße. Das richtete sich nach der Bastion der Stadtbefestigung aus, hatte aber auch den Vorteil, so wird berichtet, dass man vom Tor nicht in die Straße hineinschießen konnte. Im abergläubischen China hätte man die Ausrichtung vielleicht so erklärt, dass Geister, die nur schnurgeradeaus laufen können, nicht in die Straße gekommen wären.

Rathaus Spandau
Als 1903 die Festungsanlage beseitigt wurde, hatte man genügend Fläche, um auf dem Platz der ehemaligen Bastion I ein neues Rathaus zu errichten. Allerdings war der Bauplatz so schwierig, dass man den Rathausturm nicht in die Hauptfassade integrieren konnte, sondern im Hof errichten musste.

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Dass das Rathaus auf seiner Fassade verspielte Schmuckelemente - teils mit Jugendstilmotiven - zeigt, fällt offensichtlich angesichts des trutzigen Baus nicht auf. Die beiden Bildhauer und ihre Kunstwerke kommen in Online-Quellen und in Bildersammlungen nicht vor. Und die Wartenden an der Bushaltestelle schauen wohl eher auf ihr Handy als auf die Hausfassade.

Im "Kaffee 26" in der Carl-Schurz-Straße sitzen wir nett und werden freundlich bedient. Meine Käsetorte mit Mohn ist lecker. Mein Mitflaneur befürchtet, das könnte mich dumm machen, aber bisher ist die Wirkung wohl noch nicht sichtbar.

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