Berlins griechische Morgengöttin

Stadtteil: Tempelhof
Bereich: Lichtenrade
Stadtplanaufruf: Berlin, Im Domstift
Datum: 15. April 2021
Bericht Nr.:732

In Lichtenrade würden die Uhren etwas beschaulicher gehen als im innerstädtischen Bereich, schreibt das Bezirksamt auf seiner Homepage, und bei dem alten Dorfkern sei es ein wenig, als ob die Zeit stehen geblieben sei. Mit seiner Lage am äußersten Rand der Stadt ist dem Ortsteil tatsächlich solche Beschaulichkeit zugefallen. Die Fernstraße nach Sachsen (B 96) geht an der Dorfstraße (Alt-Lichtenrade) vorbei, dadurch blieb der Dorfkern mit Kirche, Dorfaue und Bauernhäusern frei vom Durchgangsverkehr. Die Bahnstrecke wurde noch weiter westlich eröffnet, so dass auch das Geschäftszentrum Bahnhofstraße außerhalb des Dorfes liegt. Die Bebauung hat von dieser geschützten Lage leider nicht profitiert, ein typisches Ortsbild hat Lichtenrade nicht entwickelt. Auch an der alten Dorfstraße haben Überformungen und spätere Bauten den einheitlichen Charakter verschwinden lassen, nur die Dorfaue mit dem größten in Berlin erhaltenen Dorfteich "Giebelpfuhl" bietet ein stimmungsvolles Bild. Dafür muss die historische Schmiede nahe der Groß-Ziethener Straße stillos mit einem verzinkten Gartentor anstelle eines geschmiedeten Tores auskommen.

Über das dörfliche Zentrum steht mehr in meinem Bericht Alt Lichtenrade. Ein anderer Spaziergang führte uns zur Umgebung des Bahnhofs und der Bahnhofstraße. Die übliche Investorenprosa ist auch in Lichtenrade zu finden: An der Nuthestraße zieht sich entlang der Bahn eine Reihe von eintönigen Neubauten dicht an dicht. Dafür wird so geworben: "Freuen Sie sich auf abwechslungsreiche Häuser, Sie werden das 'Village Lichtenrade' lieben".

Das Domstift in Cölln an der Spree - der damaligen Schwesterstadt von Berlin - hatte ab 1515 in mehreren Schritten das Dorf Lichtenrade gekauft, 1570 trennte es sich von den Fischereirechten am Dorfteich. Per Edikt führte es 1693 eine Kopfsteuer ein. Das Domstift war eine kirchliche Körperschaft, die sich neben ihren religiösen Aufgaben professionell mit der Verwaltung ihres eigenen Vermögens beschäftigte. Dazu gehörte eigener Grundbesitz mit mehreren Dörfern wie Kaulsdorf, Lichtenrade und Zepernick.

Bis 1872 blieb Lichtenrade ein "Domdorf", im neuen Kaiserreich setzte die berlintypische Entwicklung mit steigenden Einwohnerzahlen, eigener Bahnstation und vorstädtischer Bebauung ein, die schließlich 1920 zur Einbeziehung in Groß-Berlin führte.

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Volkspark Lichtenrade
In der Nahariyastraße wurde auf der grünen Wiese in den 1970er Jahren eine Hochhaussiedlung hochgezogen, die der Konzeption von Großwohnsiedlungen folgte, aber nur für eine kleinere Bewohnerzahl ausgelegt ist. Die Bewohner hatten die Grünfläche bis zur Straße Im Domstift am alten Dorf vor Augen und kamen auf die Idee, dort einen Park anzulegen. Es ist ein hübsches Spiel mit dem Begriff "Volkspark", der kleine Park wurde nicht von Planern "für" das Volk angelegt, sondern "vom" Volk selbst.

Es begann mit der Initiative, Weihnachtsbäume mit Wurzeln nach bestimmungsgemäßem Gebrauch in die Grünfläche auszupflanzen. Aus der kleinen Bürgerinitiative wurde der Verein "Lichtenrader Volkspark e.V.", der ohne rechtliche Absicherung das Bauland an der Groß-Ziethener Straße okkupierte. Zwei Drittel der Fläche gehörte der evangelischen Kirche, den Rest teilten sich das Land Berlin und ein Bauer.

Mit der Kirche und dem Bezirk kamen die Volkspark-Gründer klar, aber die Erben des Bauern scherten aus und verkauften ihre 10.000 qm an einen Investor, der dort 40 Einfamilien-Reihenhäuser errichtete. So ist am Volkspark eine weitere Bebauung entstanden, keine Hochhäuser, aber eben auch kein Park. Unser arm-aber-sexy-Regierender Wowereit - selbst alter Lichtenrader - hatte 2008 das Vergnügen, dem Lichtenrader Volkspark-Verein eine Auszeichnung des BUND zu überreichen für sein Engagement für das öffentliche Grün. Doch aktuell hat der Verein Sorgen: Es sind die Alten, die die Initiative tragen, die junge Generation ist kaum noch vertreten.

Lichtenrader Graben
Dass Berlin vom Hochwasser überschwemmt wird, kann man sich heute kaum vorstellen. Hoffen wir, dass es so bleibt, die Umweltverwaltung ist jedenfalls darauf vorbereitet. Ein verheerendes Unwetter traf Berlin im April 1902, die gesamte Innenstadt wurde überschwemmt. Besonders betroffen waren Yorkstraße und Friedrichstraße, wie alte Abbildungen zeigen. Die Wolkenbrüche waren so stark, dass sie Häuser zum Einsturz brachten und Straßen unterspülten. Die Straßen wurden bis zu einer Höhe von einem Meter überflutet. Eine Karikatur zeigt: Wer kein Fuhrwerk fand, konnte sich vielleicht über die Friedrichstraße tragen lassen, das kostete sechs Dreier für Dicke, einen Groschen für die Dünnen.

In Marienfelde und Lankwitz waren Überschwemmungen eine Dauererscheinung. Dort wurden die Felder nach ausgedehnten Regenfällen häufig überflutet, die Ernte fiel dann buchstäblich ins Wasser. In den 1770er Jahren ließ Friedrich der Große einen Entwässerungsgraben - den Königsgraben - anlegen, der mit zahlreichen Nebenarmen als Vorfluter das Wasser Richtung Bäke abführte. Auch Lichtenrade hatte das Problem, dass das nicht abfließende Wasser seine Ernte vernichtete. Mit dem Lichtenrader Graben hat der Alte Fritz auch dort dafür gesorgt, dass die Feldmark entwässert wird.

1927 wurden steigende Wassermassen erneut zum Problem. Zunehmende Bebauung hatte zur höheren Abwassermengen geführt, bei heftigen Regenfällen überschwemmte das Wasser die Keller und die Gärten. "Bei Wind plätscherten die Wasserwellen an die Straßenböschungen. In den Gärten vergnügten sich die Kinder, mit Waschfässern umherzugondeln. Manche Kleingärtner machten aus der Not eine Tugend und züchteten Enten. Nie waren vorher in einer Geflügelausstellung so viele Enten gezeigt worden wie 1929."

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Der Bezirk schuf Abhilfe durch den Bau des "LiLaReSa", wie die Einheimischen den Lichtenrader-Lankwitzer-Regensammler nennen. Er ist an den Königsgraben angeschlossen. Damit wird das Wasser letztlich zum Teltowkanal entsorgt. Zum Teil verläuft der Kanal unterirdisch, den Volkspark begleitet er in offener Bauweise. Bei unserem Rundgang sehen wir keine Wassermassen, nicht einmal einen Tropfen, das Kanalbett ist ausgetrocknet.

Mahnmal für das Außenlager des Konzentrationslagers Sachsenhausen
Während des Zweiten Weltkrieges wurden Zwangsarbeiter rekrutiert als Ersatz für die Arbeitskräfte, die sich an der Front befanden. Insgesamt waren in Berlin an die eintausend Lager angesiedelt, in denen Kriegsgefangene und KZ-Häftlinge arbeiten mussten. Es waren "Westarbeiter" (Italiener, Belgier, Franzosen, Holländer), oder die besonders diskriminierten "Ostarbeiter“ (Polen, Russen, Ukrainer). In Lichtenrade gab es unter anderem ein "Polenlager" der Reichsbahn in der Barnetstraße und ein Außenlager des KZ Sachsenhausen mit 500 Zwangsarbeitern am Bornhagenweg. Nahe der heutigen Bebauung erinnert dort ein Mahnmal aus Granit und Marmor mit einer in die Luft gereckten Eisenbahnschiene an die Zwangsarbeiter und ihr Schicksal.

Hermione von Preuschen
Hermione von Preuschen - dieser Name enthält keine zwei Schreibfehler - kaufte 1908 in Lichtenrade "ein kleines, weißes Haus mit Säulenportikus, im kahlen Feld auf einer Anhöhe stehend". Es war an der Prinzessinnenstraße 14, der verlängerten Bahnhofstraße, heute ist das die letzte Ecke vor dem Brandenburger Umland. Sie nannte diese Villa, mit der sie "förmlich in eins zusammen schmolz", Tempio Hermione. Ein Jahr später baute sie auf dem angrenzenden Grundstück eine Gemäldehalle für ihre eigenen Bilder, es mögen über zweihundert gewesen sein. Sie war Malerin, aber auch Schriftstellerin, Lyrikerin, Frauenrechtlerin.

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Mit ihrem Gemälde "Mors Imperator“ (Der Tod ist der Herrscher) hatte sie 1887 den Vorwurf der Majestätsbeleidigung auf sich gezogen. Sie hatte ein "Skelett mit prächtigem Hermelinumhang gemalt, auf dem Totenkopf eine Krone, die Skeletthand gestützt auf einen Thron, der in sich zusammenfällt". Kaiser Wilhelm I., der ein Jahr später starb, hatte kein Problem mit dem Gemälde, das wohl auf ihn gemünzt war, aber die Königlichen Akademie der Künste ließ das Werk nicht für die Berliner Kunstausstellung zu. Woraufhin sie es selbst in gemieteten Räumen ausstellte.

Hermione von Preuschen war Weltbürgerin, wohnte zeitweise in Rom, bereiste Griechenland, Ägypten, Indien, Ceylon, Birma. Mit ihrer Begeisterung für die Antike wurde sie zu "Berlins griechischer Morgengöttin". Viele ihrer Gedichte drehen sich um Sappho, wobei wohl nicht die Lyrikerin des klassischen Altertums selbst angesprochen wird, sondern die Liebe zu Frauen ("Der Sappho Schrei, wie lange vergellt. Am Felsen der Sehnsucht alles zerschellt!").

In der heutigen Zeit sind ihre schwülstigen Gedichte kaum zu ertragen, "verhüllt stehende Knospen", "eine Höhe grünumbuscht erblick ich", "ein Rot in Götterdämmrungsglanz", "der rastlose Herzschlag tobt durch brennende Nächte", "Aus Wellenschluchzen tönt leise, leise Stimme, süß-dunkel: Schwester, wann kommst du?".

Zu ihren literarischen Werken gehört "Yoshiwara, vom Freudenhaus des Lebens". Das ist nach einem japanischen Gedicht ein "nachtloses Schloss", in dem Kurtisanen wohnen, die in Japan auf weit geachteterer Stufe stehen als die Freudenmädchen europäischer Bordelle, "körperlich ein Spielball anderer Männer, doch seelisch immer rein".

Zweimal war Hermione von Preuschen verheiratet. Vom ersten Mann wurde sie geschieden, ihr zweiter Mann starb mit 43 Jahren, er war gleichalt mit ihr. An seiner Seite wurde sie 21 Jahre später in Rom beerdigt. Die Villa an der Prinzessinnenstraße steht nicht mehr, sie wurde 1996 abgerissen, um dort ein Mehrfamilienhaus zu bauen. 2009 wurde an einer Parallelstraße eine Grünanlage nach ihr benannt. Geben wir ihr in diesem Bericht das letzte Wort: "Der Sehnsucht nach"

In weichen Wolken wogendes Düften,
ein Vogelträumen verklingt in Lüften,
auf meinen Lippen deine Worte.
- In meiner Seele alles verdorrte,
das nicht in deinen Zungen spricht.
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Unsere Route:
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Meeresgötter tragen Nymphen über das Fenn
Es wird zuviel Wirklichkeit gezeigt