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Ein Berliner reist nach Berlin


Ahnengalerie der Flaneure: Julius Rodenberg
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Im Sommer eines jeden Jahres ging der alleinstehende Herr Traugott Schellbogen auf eine große Reise. Seine Haushälterin Amanda musste große und kleine Koffer, Hutschachteln, Handsack und Kisten packen, dann wurde der Kutscher gerufen. Von der Potsdamer Straße ging es zunächst Richtung Schlesischer Bahnhof. Erst auf Höhe des Kreuzbergs lüftete Herr Schellbogen das Geheimnis und nannte das Hotel zum Kronprinzen in der Königstraße (in der Nähe vom Alexanderplatz) als Ziel. Dort standen der Wirt und der Oberkellner Spalier, als sie Herrn Schellbogens ansichtig wurden, schließlich logierte dieser weitgereiste Herr jedes Jahr bei ihnen.

Diese Humoreske hat sich Julius Rodenberg 1890 ausgedacht, bot sie doch die Möglichkeit, viel über sein Berlin des ausgehenden 19. und beginnenden 20.Jahrhunderts zu erzählen. Denn das war Rodenbergs Profession und Begabung, er war Autor, Journalist und Flaneur (1). Über Aufenthalte in England, Irland, Paris, Malta hat er geschrieben, und mit "Bildern aus dem Berliner Leben" seine Beobachtungen als Wanderer in unserer Stadt veröffentlicht (2). Doch kehren wir erst noch einmal zu Herrn Schellbogens Reise nach Berlin zurück. Morgens stopfte Schellbogen seine Pfeife, las die Vossische Zeitung. Dann besah er das Schloss, besuchte das Museum oder machte Ausflüge in die Umgegend von Berlin. "Zuweilen ließ er sich von einem Kahnführer nach Treptow oder Stralau hinaufrudern (denn Dampfschiffe gab es damals noch nicht). In einem der Gartenlokale konnte er sich daran ergötzen, wenn die munteren Gesellschaften von Berlin herauskommen, die würdigen Frauen mit den Strickbeuteln, die jungen Mädchen in weißen Kleidern mit bunten Schleifen."

Und jedes Jahr pilgerte er zum Marienkirchhof, um dort still und wehmütig zu verweilen. Still war es tatsächlich um die Marienkirche, denn es war "eine halb versunkene Insel im Strome des Berliner Lebens". Drei Gässchen führten zur Kirche, die von alten Häusern eingeschlossen war. Doch schon zu Rodenbergs Zeiten veränderte sich das, jetzt lag das Gotteshaus "offen und frei da, seiner es gleichsam beschützenden Umhüllung beraubt". Die alten Gässchen waren "mit untadelhaftem Steinpflaster versehen, wo man früher auf uraltem Lehmboden ging, wie zu etwas Geheimnisvollem". Nur das berüchtigte Steinkreuz war noch an der Kirche, es erinnerte daran, "dass vor mehr als fünfhundert Jahren die rebellischen Berliner einen ihrer Pröpste zu Tode schlugen".

Auch nach Kreuzberg verschlug es Herrn Schellbogen. "Heut ein Häusermeer, damals aber noch völlig unbebaut", durch Staub und Felder näherte er sich seinem Ziel. "Damals waren diese Gegenden noch wenig bekannt, sie waren einsam, spärlich besucht, und man glaubte weit weg von Berlin zu sein, wenn man innerhalb ihrer sandigen Schluchten umherirrte". Schellbogen genoss, "wie es stiller und stiller ward von dem Lärm der Hauptstadt, der in der Ferne verhallte, man hörte die Lärche jubeln". Hier verschmelzen Julius Rodenberg und seine Romanfigur Traugott Schellbogen zu einer Person. Von seiner Wanderung nach Heinersdorf im Norden Berlins hatte Rodenberg selbst berichtet, "hier ist endlich kein Berlin mehr, nur sandiger Hügel, und eine Lerche schwirrt über den Feldern und singt" (3). Rodenberg und seine Romanfigur wohnten an der Potsdamer Straße, Rodenberg nahe dem heutigen Kulturforum. In die Königstraße zieht es nicht nur Schellbogen, auch sein Schöpfer Rodenberg beobachtet die Königstadt ausgiebig.

Der beständige Wandel in der Stadt führte Rodenberg zu dem Ausruf: "Lieber Leser, gib Dir keine Mühe, ein Fleckchen irdischen Vergnügens aufzusuchen. Bis Du Dich in Bewegung gesetzt haben wirst, ist es nicht mehr". Allerdings galt dies 1886 nicht für die Königstraße. "Ihre Gäßchen und Höfe waren noch so finster und feucht, so schmutzig, höhlenartig und, mitten in einer dezenten Umgebung, von einer solchen unsauberen Gesellschaft bewohnt wie vor dreihundert Jahren, und ihre Straßen hatten ein kleinstädtisches Ansehen wie vor hundert Jahren. Die Königstraße war nicht breiter als zu der Zeit, wo durch dieselbe Preußens erster König seinen triumphalen Einzug gehalten". Es war "ein Stück Mittelalter, so räucherig wie nur irgend eines", man hatte "mitten in diesem völlig modernen und modernisierten Berlin das Gefühl eines anderen Jahrhunderts". Und doch ist auch hier Veränderung zu spüren, "die Königskolonnaden und die Königsbrücke sind noch da, aber unter der Brücke ist kein Wasser mehr, sie selber wird auch bald nicht mehr sein. Auf dem trocknen Bette des weiland Königsgrabens erheben sich die Strukturen eines anderen Werkes, der Stadtbahn, welche so recht im Geiste der neueren Zeit rücksichtslos fortschreitet durch unsere Straßen, zerstört, was ihr im Wege ist".
Andererseits hat Rodenberg die moderne Zentralmarkthalle nahe der Marienkirche so himmelhoch jauchzend gefeiert, dass man Mühe hat, ihm zu folgen: "Als wir in die vom Frühlingssonnenschein durchleuchtete Halle traten, da schwammen die Fische so vergnügt in ihren Kübeln, hingen die großen Braten so verlockend an ihren Krampen, entsandten die Blumen und die Käse so lieblichen Duft, standen die trefflichen Marktweiber so würdevoll in ihrem neuen Palast und rollten obenhin die Stadtbahnzüge mit majestätischem Donner". Das Vergnügen der Fische wird wohl zu Ende gewesen sein, wenn die trefflichen Marktweiber ihnen eins über den Kopf gehauen haben, vom lieblichen Duft des Käses ganz zu schweigen.

Und wo endet der Spaziergang eines Flaneurs? Wir haben das Flaniermahl nicht erfunden, eine kulinarische Rast nach dem Laufen bietet sich an. Geben wir Julius Rodenberg noch einmal das Wort: "Jetzt ist die Sonne hinunter, und nur noch das Abendrot flammt an den Himelssäumen. Dies ist die Stunde, wo ich meinen Spaziergang in den schönen Gärten des Böhmischen Brauhauses zu beschließen pflege".

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(1) Julius Rodenberg wurde als Julius Levy 1831 in Rodenberg nahe Hannover geboren, er änderte seinen Namen, konvertierte aber nicht zum christlichen Glauben. Er war Herausgeber mehrerer Zeitschriften, u.a. der führenden Kulturzeitschrift "Deutsche Rundschau", in der auch seine Berlin-Essays erschienen. Rodenberg engagierte sich für die Goethe-Gesellschaft und die Schiller-Stiftung. Für Stollwerck arbeitete er an der literarischen Gestaltung von Sammelalben mit. 1914 gestorben, wurde er auf dem Zentralfriedhof Friedrichsfelde beerdigt, den er so schätzte.
(2) Auf diesen Spaziergängen hat Rodenberg uns begleitet: Rodenberg, Julius
(3) Rodenbergs Ausflug nach Heinersdorf: Zwischen den Bahnhöfen
(4) Königskolonnaden und Königsbrücke: Verschiebebahnhof
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27. Oktober 2014


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