Heim für Kolonisten und für Ausgebombte

Stadtteil: Köpenick
Bereich: Müggelheim
Stadtplanaufruf: Berlin, Sobernheimer Straße
Datum: 30. September 2013
Bericht Nr: 435

Unser heutiges Ziel ist Müggelheim. Anders als der Name vermuten lässt, ist Müggelheim kein Heim, sondern ein Dorf. Kein mittelalterliches Dorf mit einer Feldsteinkirche in der Mitte, sondern eine sehr viel später gegründete Siedlung, um Zuwanderer aufzunehmen, deren Fleiß und Kenntnisse in Preußen willkommen waren. Böhmisch-Rixdorf, das der Soldatenkönig für böhmische Exilanten gegründet hatte (1), und Friedrichshagen, in dem Friedrich der Große Baumwollspinner ebenfalls aus Böhmen ansiedelte (2), sind Beispiele für die Niederlassung von Kolonisten. In Bohnsdorf ließen sich mit Unterstützung des Königs Auswanderer aus der Pfalz nieder (3), die durch preußische Werber ins Land gelockt wurden, und auch Müggelheim wurde mit Pfälzern "peupliert". Viele von ihnen kamen aus Odernheim, und so war der neue Dorfname Müggelheim - ein Ortsname mit der Endung "heim" - für die Neuankömmlinge noch ein Hauch von alter Heimat. Allerdings wurde ihnen nicht erlaubt, die Müggelberge mit Weinstöcken zu bepflanzen, was eine weitere Erinnerung an ihre Herkunft aus der Pfalz gewesen wäre.

Hundertfünfzig Jahre lang lag Müggelheim verborgen zwischen Müggelsee und Dahme, bevor eine Chaussee nach Köpenick das Dorf erschloss und seine Abgeschiedenheit beendete. Nach der Gründung 1747 wurde zunächst die Schule - an der die Kinder "in Lesen, Schreiben und Gottesfurcht" unterrichtet wurden -und dann die Kirche fertig gestellt. Die Abgeschiedenheit blieb immer ein Thema dieser Ansiedlung. Als sich 1920 Groß-Berlin zusammenschloss, war Müggelheim die kleinste Landgemeinde im Berliner Stadtverband. Später als andere Berliner Ortsteile, erst 1934, wurde das Dorf an die städtische Wasserversorgung angeschlossen. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs stellte die BVG wegen Reifenmangels den Busverkehr nach Müggelheim ein und nahm ihn erst zwei Jahre später wieder auf, die abgelegene Kolonie war wieder von der Stadt abgehängt. Gegen Ende des Krieges war Müggelheim wegen seiner Lage außerhalb des Zentrums ausgewählt worden, um hier Behelfsunterkünfte für Bombenopfer zu bauen.

Berlin hat unter den Bombardierungen im Zweiten Weltkrieg dramatisch gelitten. Nicht nur Regierungs- und Industriegebäude wurden angegriffen, auch Wohnviertel sind bombardiert worden, um die Bevölkerung zu demoralisieren. Hunderttausende wurden obdachlos. Die Nazis befürchteten, hier könnte ein revolutionäres Potenzial entstehen, und improvisierten sofortige Hilfe nach den Angriffen. Neue Lebensmittelmarken und Sonderausweise für eine sechstägige kostenlose Versorgung aus einer fahrbaren Großküchenanlage wurden ausgegeben, in Kinos und Schulen gab es Wurstbrote und warme Suppen. Theateraufführungen, Kinovorstellungen und Sportveranstaltungen sollten die Menschen bei Laune halten, Propagandaminister Goebbels hatte von den römischen Inszenierungen "Brot und Spiele" gelernt.

Und wo blieben die Ausgebombten, wo konnten sie unterkommen, wenn sie nicht von Verwandten aufgenommen oder in andere Wohnungen eingewiesen wurden? Jede Arbeitskraft wurde dringend in der Rüstungsproduktion gebraucht, Notunterkünfte zu schaffen war daher auch im ureigensten Interesse des Naziregimes. Als "Behelfsunterkünfte für Bombengeschädigte" (BfB) sollten zunächst 101.000 standardisierte Holzhäuser gebaut werden, die der Normungsexperte Ernst Neufert entwickelt hatte.

Neufert war ein Technokrat, der in drei Epochen deutscher Geschichte immer auf der richtigen Seite stand. In Weimar war er am Bauhaus Mitarbeiter von Walter Gropius, im Dritten Reich wurde er Albert Speers Beauftragten für Typisierung, Normung und Rationalisierung des Berliner Wohnungsbaus. Auch an den Speerschen Planungen für den gedachten späteren Wiederaufbau kriegszerstörter Städte war Neufert beteiligt. In der Endphase des Krieges wurde er in die "Gottbegnadeten"-Liste der wichtigsten Nazi-Kulturschaffenden aufgenommen, die sozusagen das "Kulturerbe"-Verzeichnis des untergehenden Reiches war. Kurz nach Kriegsende erhielt Ernst Neufert 1945 einen Ruf als Professor für Baukunst an die Technische Hochschule Darmstadt, er war übergangslos im Nachkriegsdeutschland angekommen. Die Bundesrepublik hat ihm dann zwanzig Jahre später das Große Verdienstkreuz des Verdienstordens verliehen, "die höchste Anerkennung, die die Bundesrepublik für Verdienste um das Gemeinwohl ausspricht". Neuferts "Bauentwurfslehre" (Normen, Maße, Bauvorschriften) ist bis heute die Bibel der Bauingenieure, seit 1936 ist sie in 40 Auflagen erschienen und wird als "weltweit anerkanntes Standardwerk" im wissenschaftlichen Springer-Verlag vertrieben.

Die Herstellung von Neuferts typisierten Behelfsunterkünften scheiterte schlicht am Holzmangel. Im September 1943 errichtete der "Führer" durch Erlass das "Deutsche Wohnungshilfswerk", das "alle Maßnahmen zur erträglichen Unterbringung der luftkriegsbetroffenen Bevölkerung" ergreifen sollte, insbesondere die "Aufstellung von einfachen Behelfsheimen in Siedlungsform [...] in weitestgehender Selbst- und Gemeinschaftshilfe der Bevölkerung". Die Behelfsheime hatten auf 20 qm Wohnfläche zwei Zimmer und mussten ähnlich wie Gartenlauben weitgehend ohne Strom, Wasser und Kanalisation und Isolierung gegen Kälte und Feuchtigkeit auskommen. Die Bauten wurden möglichst in der Nähe von Kleingärten errichtet, weil dort Kenntnisse aus ähnlichen Siedlungsstrukturen vorhanden waren. Nach Kriegsende sollten die Bewohner Eigentum an den Grundstücken erwerben können. Mit der Selbsthilfe war das allerdings nicht so weit her, alle kriegstauglichen Männer waren an der Front, und so mussten KZ-Häftlinge unter SS-Aufsicht für die Ausgebombten bauen. Hierfür unterhielt das KZ Sachsenhausen ein Außenlager in Berlin-Müggelheim.

In Müggelheim wurden die Behelfsbauten angrenzend an die Sobernheimer Straße in der Siedlung Blumenfeld-Vogelwiese errichtet. Die kleinteilige Parzellenstruktur ist im Stadtgrundriss sichtbar geblieben. Die Behelfsbauten sind vielfach in größeren Bauten auf den engen Grundstücken aufgegangen, lassen ihre Herkunft aber noch erahnen. Der Heimatverein wollte in einer Ausstellung die "Entwicklung vom Behelfsheim zum modernen Eigenheim" zeigen, dieser Anspruch ist aber wohl zu hoch gegriffen. Interessant ist, dass die Behelfsheime sowohl im Stadtplan als auch im Bewusstsein der Anwohner gegenwärtig sind, ein von uns angesprochener Anwohner zeigte uns bereitwillig im Straßenbild sichtbare Behelfsheim-Keimzellen in der heutigen Bebauung.

Die Große Krampe - eine Bucht der Dahme südlich des Ortsteils - reicht bis an die Straße Alt-Müggelheim heran. An dieser Bucht liegt der Campingplatz "Kuhle Wampe", dessen Name an den Film "Kuhle Wampe oder: Wem gehört die Welt?" erinnert. Neben anderen Autoren schrieb Bertold Brecht das Drehbuch zu diesem Propaganda-, Dokumentar- und Spielfilm aus dem Arbeitermilieu in der Zeit der Weltwirtschaftskrise. Der Zeltplatz Kuhle Wampe lag zu dieser Zeit tatsächlich nördlich des Dorfes am Müggelsee und wird in dem Film als Kleingartenkolonie dargestellt. Der Name wird aus dem Berlinischen ins Hochdeutsche mit "kühler Bauch" übersetzt. Die Uraufführung des Films fand 1932 in Moskau statt, danach lief der Film in Berlin, in anderen europäischen Städten und 1934 in New York.

Nordöstlich des Dorfes kann man die Müggelspree mit einer Fähre überqueren. Hier verkehrt Berlins einzige Ruderfähre, mit Muskelkraft kann man nach Rahnsdorf übersetzen und muss dafür nur ein BVG-Kurzstreckenticket lösen (4).

Am Dorfanger in Müggelheim steht das Denkmal für einen ehemaligen Dorfjungen mit ungewöhnlichem Lebenslauf, auch eine Straße wurde hier nach ihm benannt: Johann Jacob Baeyer wurde vom Bauernsohn zum General im Preußischen Generalstab. Er beschäftigte sich mit topographischen Arbeiten, mit der Vermessung Mitteleuropas nach Längen- und Breitengraden, mit der Erdanziehung und der Krümmung der Erdoberfläche. Für die Landesvermessung wurden die Flächen in Dreiecke aufgeteilt (Triangulation), trigonometrische Punkte wurden als Bezugspunkte markiert. Auf der Marienhöhe in Schöneberg bestand beispielsweise ein solcher Trigonometrischer Punkt (5). Bei der Bestimmung der Meereshöhe der Berliner Sternwarte (6) wirkte Baeyer mit, konnte seine Vorstellungen über den Bezugspunkt aber nicht durchsetzen. Auch auf den Müggelbergen vermaß er einen trigonometrischen Punkt, der heute im Terrassenrestaurant Müggelturm durch einen Granitstein markiert wird. Baeyer leitete die Trigonometrische Abteilung des preußischen Generalstabs und danach das von ihm gegründete Geodätische Institut, das später auf dem Telegrafenberg in Potsdam seinen Sitz nahm. Mit der Initiative zur "Europäischen Gradmessung" sorgte er für eine internationale Übereinkunft im Bereich der Erdmessung. Darüber freute sich die "Gartenlaube" 1878: "Wo wäre das Land, welches deutsche Geographen nicht bereist haben, wo flösse ein Meer, welches ein deutscher Kiel nicht durchfurcht hat, wo wären Einöden und Wüsten, Felsengebirge und Stromgebiete, zu deren Erforschung deutsche Forschungsreisende nicht ihren redlichen Beitrag im friedlichen Wettkampf der Nationen geliefert haben?".

Im Gasthaus Müggelheim nehmen wir unser Flaniermahl ein. Forelle, Bauernfrühstück, Bier, Wein, wir waren mit allem zufrieden. Natürlich hatten wir diese Speisen und Getränke unter uns aufgeteilt, wer isst schon Forelle und Bauernfrühstück gleichzeitig?

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(1) Böhmisch-Rixdorf: Doppel-Dorf überwindet zweifelhaften Ruf
(2) Friedrichshagen: Siedlung für Spinner
(3) Bohnsdorf: Tauben im Paradies
(4) Rahnsdorf und die Fähre: Menschenfischer
(5) Der trigonometrische Punkt auf der Marienhöhe: In der Kiesgrube verbuddelt
(6) Die Berliner Sternwarte als "Preußische Normalnull": Berliner Nullpunkte

Ein Park mit Geschichte
Süßer Grund in Adlershof