Stöbern statt suchen

Stadtteil: Steglitz
Bereich: zwischen Albrechtstraße und Birkbuschstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Leydenallee
Datum: 20. Januar 2020
Bericht Nr.:684

Im Bereich der Steglitzer Albrechtstraße gibt es zwei Buchhandlungen und zwei Antiquariate, darunter ist Berlins größter Laden mit gebrauchten Büchern. In einer Halle im Hinterhof wird diese unglaubliche Vielheit von Büchern feilgeboten. Am Eingang kann man einen Plan in die Hand bekommen, um sich in der Fülle der Regale und aufgestapelten Kisten nicht zu verirren. Unausgepackte Bücherkisten gehören zum Berufsbild des Antiquars, meist Obstkisten aus dem Supermarkt, die ein zweites Leben für die Bücher gefunden haben und jetzt der Entdeckung ihres geheimnisvollen Inhalts harren.

Von der Albrechtstraße auf kurzem Weg um die Ecke findet man ein weiteres Antiquariat in der Schützenstraße, die eine Verlängerung des Gardeschützenwegs ist und sich mit ihrem Namen auf die Kaserne des Garde-Schützen-Bataillons in Lichterfelde bezieht. Das Antiquariat Morgenstern bietet die Annehmlichkeit einer kleinen Café-Ecke, hier kehren wir nach unserem heutigen Rundgang ein.

Über Antiquariate
Antiquariate können sich kaum gegenseitig Konkurrenz machen, sie haben kein standardisiertes Angebot und sind von den Zufällen abhängig, welche Bücher in ihren Besitz kommen. So gab es schon in den 1960er Jahren die erste Bücherstadt mit 40 Antiquariaten in Hay-on-Wye, einem entlegenen walisischen Nest an der Grenze zu England. Fast möchte man den Ortsnamen kalauernd mit "Heavy on Wire" verdolmetschen, was die Übersetzung von "Schwer auf Draht" ins Lübke-Englisch wäre.

In Wünsdorf südlich von Berlin ist die Idee der Bücherstadt aufgegriffen worden. Dort war ein alter preußischer Militärstandort, der nach dem Zweiten Weltkrieg zum Sitz des Oberkommandos der Sowjetischen Streitkräfte wurde. Nach der Wende entwickelte sich die verlassene Bunkerstadt zur "Bücher- und Bunkerstadt Wünsdorf" mit 350.000 Büchern in mehreren Antiquariaten.

Es gibt sie also noch immer, die Antiquariate, auch wenn ihre Zahl im Internetzeitalter zurückgegangen ist. Im Internet kann man ein Buch suchen - und finden -, die Suchfunktion bringt zutage, wo überall man es bekommen kann. Beim Antiquar geht es um etwas ganz anderes: um das Stöbern. Mensch und Buch begegnen sich, ein Aufeinandertreffen mit ungewissem Ausgang. Im Grunde geht es um das Unerwartete: Dass man etwas findet, was man gar nicht gesucht hat. Im Internet wird versucht, das mit einem Zufallsgenerator nachzubilden, aber zum Stöbern gehört das haptische Erlebnis, das tastende "Begreifen", das sich nicht virtuell nachstellen lässt.

Vor einiger Zeit saß ich bei einem Antiquar im Wohnzimmer (er hatte keinen Laden) und entdeckte in einem Bücherstapel mit Berlinthemen den Friedhofsführer von Willi Wohlberedt, mehrere schmale gebundene Bändchen. Wohlberedt ging über die Friedhöfe, verfasste als Autodidakt Biografien von Verstorbenen in Stichworten, gab seine Werke im Selbstverlag heraus. Vorher hatte ich noch nie von ihm gehört, heute befrage ich ihn zuerst, wenn ich über Friedhöfe schreibe. Durch seinen Hinweis habe ich unter anderem von dem Erfinder des Motorrads erfahren, der auf einem Zehlendorfer Friedhof beerdigt liegt.

Die Lebensgeschichte von Willi Wohlberedt ähnelte auf seine Weise der von Vivian Maier, die als Kindermädchen in New York einen Nachlass mit brillanten Straßenfotografien hinterlassen hat. Gelobt sei der Antiquar, der mir noch viel mehr Berlinbücher zeigen wollte, aber mein Stöbern hatte mich schon glücklich gemacht.

In den Friedhofsbüchern kam zu Hause eine weitere Ebene zutage: Ein Vorbesitzer hatte Seiten mit handschriftlichen Notizen eingefügt. In feiner, wie gestochen wirkender Schrift, hatte er Eintragungen ergänzt und andere korrigiert und dabei den Stichwortstil exakt übernommen. Hier muss jemand mit derselben Begeisterung die Wege Wohlberedts nachgegangen sein. Mit fundiertem Wissen hat er sein Werk fortgesetzt. Oder war es Wohlberedt selbst, der seine Bücher nach dem Druck ergänzt hat? Es bleibt ein Geheimnis.

Zurück zur Albrechtstraße mit einem kurzer Abstecher zur Buchhandlung Auerbach. Deren Schätze wird man hinter der schmalen Ladenfront kaum vermuten, aber der Laden reicht weit in die Tiefe. Wenn der Kunde schon im Laden ist, könnte man ihn vielleicht mit einem weiteren Angebot erfreuen? Auf eine kleine feine Auslese von Weinen stößt man bei Auerbach, schließlich liest es sich zu Hause ganz entspannt bei einem Glas Wein. Die Albrechtstraße gab es schon 1870, die Buchhandlung wurde 1882 gegründet und ist damit die älteste in Steglitz.

Albrechtstraße
Die Albrechtstraße ist (fast) keine Laufgegend und erst recht keine Flaniermeile. Das heterogene Angebot in dieser Straße geht vom Shisha-Laden über Friseure, Fahrschulen, Nagelstudios, Sportwetten bis zum Biomarkt. "Dampfen" ist angesagt, E-Zigaretten, Verdampfer und das passende Lebensgefühl werden mehrfach in der Albrechtstraße angeboten. Und heterogen ist auch die Bebauung in dem Viertel südlich des Bahnhofs, zwischen Albrechtstraße und Birkbuschstraße bis zur Klingsorstraße.

Bauten-Patchwork
Die Karte der Baujahre des heute von uns begangenen Quartiers ist wie ein Patchwork anzusehen: Reich geschmückten Eckgebäude, Villen und Miethäuser aus den 1870er bis 1920er Jahren. Weitere Bauten sind ab den 1950er Jahren entstanden. Dazu gehören Hallen für Supermärkte genau wie Wohnkomplexe der Nachkriegszeit, die dringend benötigten Wohnraum schufen ohne mit ihrem Aussehen (von Architektur mag ich gar nicht sprechen) auf das Umfeld Rücksicht zu nehmen. Insgesamt ein kunterbuntes Bild, das sich uns bei unserem Rundgang bietet.

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Eckgebäude
Direkt am Bahnhof Rathaus Steglitz öffnet ein reich geschmückter Bau den Zugang zur Albrechtstraße. Zwei Giebel krönen das Eckgebäude zur Albrecht- und Berlinickestraße. Zwischen den Giebeln eingezwängt ist ein Turm mit einer Glockenhaube, einem glockenförmig geschwungenen Dach. Es braucht einige Zeit, bis man die reichhaltig mit Ranken und plastischen Figuren verzierte Fassade in allen Einzelheiten wahrgenommen hat.

Der Götterbote Hermes blickt vom Hauseingang herunter, flankiert von zwei sitzenden Putten. Am Nachbarhaus schaut ein Faun unter einer muschelförmigen Balkonunterseite auf den Eintretenden herab.

An der nächsten Straßenkreuzung sind es zwei historisierende Eckgebäude, die den Eckpunkt mit Haube und Kuppel betonen. Das eine folgt den beiden Straßen mit gefälliger Rundung, das andere setzt mit einem kantigen Erker Akzente. Zur Schützenstraße setzt sich dieser Bau fort und umschließt dort einen offenen Innenhof mit über Eck gestellten Erkern.

Architekten, Baumeister, Baugewerkschulen
Das Eingangsgebäude an prominenter Ecke zur Berlinickestraße und das Nachbargebäude in der Albrechtstraße 8 sind 1904 von einem Architekten entworfen worden. Die anderen Eckgebäude und weiteren Baudenkmale aus der Zeit bis 1900 haben Bauhandwerker errichtet, die an Baugewerkschulen zu Baumeistern ausgebildet wurden. In der Denkmaldatenbank finden sich berlinweit viele Gebäude jener Zeit, bei denen als Planer Bauhandwerker wie Maurermeister, Zimmermeister usw. genannt werden.

Nach der Reichsgründung 1871 waren für die "großen" Bauaufgaben wie beispielsweise Kirchen weiterhin die an den Technischen Hochschulen ausgebildete Architekten tätig. Für die bürgerliche Bauherrenschaft wurden begabte Handwerker an Baugewerkschulen unterrichtet. Vorausgesetzt wurde, dass der Bewerber sittlich geeignet war und praktische Erfahrung im Bauhandwerk hatte. Die Ausbildung umfasste Allgemeinbildung wie Deutsche Sprache und Rechnen sowie fachliche Unterrichtung in Zeichnen, Modellieren, Geometrie, Materiallehre, Baustilen, Bürgerlicher Baukunst, Baukonstruktion, Formenlehre. In der Kurfürstenstraße steht die 1893 erbaute Berliner Baugewerkschule, die baulich als "Musterbuch" möglicher Architekturformen gestaltet wurde. Heute gehört sie zur Beuth-Hochschule.

Im Steglitzer Kiez haben Maurermeister wie Spuck, Balcer und Pascal gebaut. Ein Name kommt hier sogar vier Mal vor, Johann Sinnig. Er hat als Baumeister den Blumenpavillon am Bahnhof entworfen und zwei Wohnhäuser in der Leydenallee. Beim Gemeindehaus der evangelischen Kirche in der Mittelstraße wird er als ausführender Bauunternehmer genannt.

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Mittelstraße
Verlässt man den Bahnhof zur Mittelstraße hin, dann öffnet sich "backstage" - hinter der Bühne der Albrechtstraße - eine völlig andere Welt. Erst ist die Mittelstraße eine schmale Straße, fast eine Gasse, die sich nach 30 Metern um einen Seitenstreifen erweitert. Hinter der Schützenstraße wird aus der Gasse ein schmaler Fußpfad, der sich nach 130 Metern schließlich zu einer Straße verbreitert. Die Erklärung für dieses Straßenkuriosum: Diese Verbindung, die fast so alt ist wie die Albrechtstraße, ging "mitten" durch Gärten hindurch.

Die Bebauung ist genauso kurios wie der Straßenverbindung selbst. An einer verputzten Brandmauer findet sich in Großbuchstaben, die auch noch groß aufgemalt sind, der Name "Erich Schultz". In einer Höhe, die man mit Kritzeleien nur erreichen könnte, wenn man eine Leiter anstellt. Man kommt ins Grübeln, ist der Name der Rest eines Werbehinweises?

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An der erweiterten Gasse sind historisierende Altbauten zu finden. Weiter südlich steht ein Kitaneubau zur Rechten und ein Gemeindehaus-Backsteinbau zur Linken, und dann wird es krass: Unvermittelt kommt ein kubischer Kirchenbau der 1970er Jahre in den Blick, dessen Fassade aus halbrunden Betonsteinelementen besteht, die anderswo als Pflanzringe dienen könnten.

Griechisch-orthodoxe Kirche
Als um 1800 die Griechen zu einem wahrnehmbaren Teil der Bevölkerung in Preußen geworden waren, kam auf Bitten des Königs ein orthodoxer griechischer Bischof nach Berlin. Die Berliner Griechen handelten vor allem mit Tabak und Schwämmen. Schwammtauchen hatte auf griechischen Inseln - besonders auf Kalymnos - seit 2.500 vor Christus wirtschaftliche Bedeutung erlangt, weil nur eine geringe Fläche des vulkanischen Bodens kultiviert werden konnte.

Auch in anderen Städten waren Griechen als Schwamm- und Tabakhändler tätig. Die Polizeidirektion München beispielsweise hat 1811 die Gewerbebefugnisse so geregelt, dass die Schwammhändler auch Artikel zum Tabakrauchen anbieten können, "für die Zukunft aber keine Knöpfe mehr führen dürfen bei angemessener Bestrafung".

Heute werden über zehntausend Griechen in Berlin und Umland von der Griechisch-Orthodoxen Kirchengemeinde "Christi Himmelfahrt" betreut, die in der 1976 erbauten Kirche in der Mittelstraße ihren Sitz hat. Gottesdienste werden auch in deutscher Sprache gefeiert. Über das Religiöse hinaus ist die Kirche auch zu einem Kulturzentrum geworden.



Dass wir zum Ende unseres Spaziergangs unseren Milchkaffee in einem Antiquariat zu uns nehmen, kann man auch symbolisch sehen. Beim Flanieren (be)suchen wir die Orte, über die ich mich vorher informiert habe, und finden - wie beim Stöbern - Überraschendes und Unerwartetes, das zum Thema meiner Berichte wird.



Setzen Sie den Spaziergang hier fort:
Mit der Klampfe durch das Land
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Unsere Route:
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Atelier für zwei Bildhauer mit Staatsaufträgen
Solbad und Kurort Lichterfelde