Frevel gegen die Götter

Stadtteil: Zehlendorf
Bereich: Nikolassee, Schlachtensee
Stadtplanaufruf: Berlin, Prinz-Friedrich-Leopold-Str.
Datum: 1. Februar 2011

Wenn man vom S-Bahnhof Nikolassee zum Hohenzollernplatz hinaustritt - wie wir bei unserem heutigen Spaziergang - sieht man links und rechts der hier einmündenden Straße je eine anmutige Bronzeskulptur von Ferdinand Lepcke, die beide nicht immer hier gestanden haben.

Die Dame rechts, der gerade der ihren Körper verhüllende Stoff entgleitet, war im Leben von göttlicher Schönheit. Ihr Name Phryne - für uns fast unaussprechlich - bedeutet "Kröte", so nannte man sie aber nur wegen ihres olivfarbenen Hautschimmers. Sie machte ihre Schönheit zu ihrer Stärke, als weltliches Abbild der Liebesgöttin Aphrodite wurde sie eine verehrte und reiche Liebesdienerin (Hetäre), der - wie überliefert ist - niemand widerstehen konnte. Als die Athener sie ob des Vergleichs mit Aphrodite wegen Frevels gegen die Götter anklagten, wusste ihr Verteidiger (der ihr ebenfalls verfallen war), wie man sie vor der Verurteilung bewahren konnte: Er enthüllte ihren Körper vor Gericht. Diesen atemlosen Augenblick hat Jean-Léon Gérôme in einem Bild festgehalten, das in der Hamburger Kunsthalle hängt: gebannt, geblendet, überwältigt, ratlos, verschüchtert, erschüttert reagieren die Richter auf diese überirdische Schönheit und sprechen sie anschließend frei. Wie gut, wenn man in der Not einen klugen Verteidiger hat! Gegen Lepckes eindeutige Benennung wurde die Skulptur auch als "Die Badende" bezeichnet und zunächst in einen entsprechenden räumlichen Zusammenhang am Schlachtensee gestellt, bevor sie hierher kam. In Lepckes Heimat Kleinmachnow war die gleiche Statue in ähnlichem Zusammenhang am Düppelteich aufgestellt.

Die andere Bronzestatue ist die "Bogenspannerin", deren Abgüsse an mehreren Orten stehen. In Bydgoszcz (Bromberg) soll sie sogar zu einem Wahrzeichen der Stadt geworden sein, weitere Skulpturen stehen in Heringsdorf, Coburg und Wilhelmshaven. In Berlin steht sie auf der Museumsinsel und kam fast unbeschädigt durch die Bombardierungen, seit 1997 spannt sie ihren Bogen auch vor dem Rathaus in Nikolassee.

Auf einem unbebauten Waldgelände wurde Nikolassee um 1900 von der Heimstätten-Aktien-Gesellschaft (HAG) als Villenkolonie angelegt, nachdem vorher schon die Kolonie Schlachtensee (nördlich der Spanischen Allee) entstanden war. Die Architekten Brix und Genzmer, (sie entwarfen auch die Pläne für Frohnau) hatten die Planung für Nikolassee übernommen. Wie üblich baute die Terraingesellschaft (HAG) auch den Bahnhof und legte die Straßen und Plätze an. Statt eines Bahnhofs waren es zwei, an der Stadtbahn und an der Wannseebahn. Auch das Gelände für die evangelische Kirche und den Friedhof stellte sie zur Verfügung und sie verpflichtete sich, „Krankenanstalten, Irrenanstalten, Gewerbe mit Rauch, Staub, Geruch, Geräuschen, ferner Guts- und Schankwirtschaften“ von der Villenkolonie fernzuhalten. Es gab Rathaus, Schule und Feuerwehr. Hierher zogen das Berliner Bildungsbürgertum, Militärs und wohlhabende Industrielle und Bankiers.

Die Terraingesellschaft HAG hatte eigene Architekten und ein eigenes Baubüro und errichtete Musterhäuser. Trotzdem sind Bauten von vielen anderen Architekten hier entstanden, darunter sind so bekannte Namen wie Hermann Muthesius (11 Bauten in Nikolassee, 4 in Schlachtensee), Alfred Grenander, Egon Eiermann, Bruno Paul, Mebes & Emmerich, Peter Behrens, Werner Issel und Walter Klingenberg (sie bauten auch das Kraftwerk Klingenberg). Das erstaunliche ist, dass trotz aller Vielfalt der einzelnen Bauten ein homogenes Siedlungsbild entstanden ist. Die Atmosphäre hier ist - so erinnere ich mich als ehemaliger Mieter in einem Haus der Alemannenstraße - nicht von der Abgrenzung geprägt wie in den Dahlemer videoüberwachten Villen mit hochvergitterten Zäunen, sondern von einer gewissen Leichtigkeit, die vielleicht durch das gediegene Umfeld erzeugt wird. Vielleicht verkläre ich das auch ein bisschen, weil ich hier eine sehr glückliche Zeit verbracht habe.

Der Nikolasseer Henning Schröder hat eine ausführliche informative Sammlung der wichtigsten Nikolasseer und Schlachtenseer Bauten zusammen getragen und im Internet veröffentlicht (schroederniko.de), ein unglaubliches Fleißwerk. Wer etwas über Baujahre, Architekten und Bewohner wissen will findet - nach Straßen sortiert - zu den Bildern der Häuser alles Wissenswerte. Wir schlagen vom Bahnhof Nikolassee zunächst einen Haken zur Burgunder Straße, um dort Bauten von Erich Blunck anzusehen und folgen dann der Libellenstraße, an deren Spitze die weithin zur Avus sichtbare "Rosenburg" mit ihrem markanten Turm steht. Sie war für mich das Erkennungszeichen "Heimat", wenn ich zu DDR-Zeiten über die Interzonenstrecke nach Berlin zurückkam.

Über die Rehwiese sind es dann ein paar Schritte zu markanten Muthesius-Bauten an der Potsdamer Chaussee, seinem eigenen Wohnhaus (Nr.49a) neben der Villa Freudenberg (Nr.48) und einem Garagenhaus auf der gegenüberliegenden Straßenseite (Nr.68). Am Kirchweg besuchen wir den Friedhof mit mehreren ausdrucksvollen Grabdenkmalen und kommen dann zu drei weiteren Muthesius-Bauten, u.a dem Mittelhof (Nr.33), der auf dem größten Grundstück steht und leider blickdicht abgeschottet ist, das "Zentrum Moderner Orient" residiert her im Unsichtbaren. Auch in der Schopenhauerstraße liegen wieder drei Muthesius-Bauten an unserem Weg (Nr.71, 53, 46) und Siedlungsbauten von Mebes & Emmerich an der Wasgenstraße. Über die Spanische Allee wechseln wir nach Schlachtensee, fotografieren an der Matterhornstraße und gehen zum Waldsängerpfad, um einen Peter-Behrens- Bau anzusehen (Nr.3), der sich in seiner sachlichen Form und weißverputzten Fassade von den typischen Villen abhebt.

Das war viel Muthesius, viel gediegene Landhaus- und Villenarchitektur, ein langer Spaziergang und für mich ein wenig eintauchen in die Vergangenheit. Am S-Bahnhof Schlachtensee gönnen wir uns noch einen Kaffee, bevor wir zurückfahren.
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Zu diesem Bericht gibt es einen Forumsbeitrag:
Nikolassee, Bronzeskulpturen (1.2.2011)

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