Das Innenleben der Litfaßsäulen

Stadtteil: Zehlendorf
Bereich: Zehlendorf-Mitte
Stadtplanaufruf: Berlin, Rondellstraße
Datum: 19. August 2019
Bericht Nr.: 665

In dem Film "Der Dritte Mann" ist der Schurke Harry Lime, als er auf einer menschenleeren Straße in Wien verfolgt wird, plötzlich wie vom Erdboden verschluckt. Der bildhafte Vergleich passt dort ausnahmsweise genau, denn er ist durch eine Litfaßsäule entkommen, von der aus eine Treppe in die Wiener Kanalisation hinunter führt. Bei unserem Stadtspaziergang am Mexikoplatz werden Litfaßsäulen und ihr Innenleben zum Thema, als unser Blick auf eine solche "Annonciersäule" mit der Aufschrift "Electrizitäts-Werke Station 4438" fällt.

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Rund 2.500 Litfaßsäulen gab bis vor kurzem in Berlin, in der ganzen Welt sollen 50.000 dieser Anschlagsäulen stehen. Damit ist Ernst Litfaß "der Deutsche mit den meisten Denkmälern der Welt". Der "Reklamekönig" wurde zum reichen Mann, indem er dem Berliner Polizeipräsidenten Hinckeldey das Monopol für Aushänge und Plakate abrang. Litfaß hatte dafür zugestanden, dass in 30 Anschlagsäulen Pissoirs eingebaut werden sollten. Allerdings kam es damals nicht zur Einrichtung der Litfaß-Pissoirs - Hohn und Spott der Presse und die Proteste der Nachbarschaft waren zu groß. Vielleicht fehlten auch einfach nur Wasserleitungen, wie Hinckeldey und Litfaß übereinstimmend beschworen.

Litfaß arrivierte zum erfolgreichen Reklamekönig, nur sein Wunsch nach sozialem Aufstieg blieb unerfüllt. Über die Ehrung als "Königlicher Hofbuchdrucker" (nach seinem ursprünglichen Beruf) kam er nicht hinaus.

Ernst Litfaß war ein Filou, die Idee zu den Reklamesäulen hatte er von Studienreisen (andere Chronisten sagen: Lustreisen) nach Paris und London mitgebracht. In Berlin gings mit Musik los, für die Einweihung der ersten Säule am 1. Juli 1855 hatte er eigens eine Polka komponieren lassen. Und in seinem Auftrag wurden alle wilden Aushänge und Zettel an Hauswänden, Torbögen und Bäumen in der Stadt entfernt. Von da an musste man Geld bezahlen, damit ein Aushang an die Litfaßsäule angeklebt wurde. Kriegsdepeschen, Wahlaufrufe, Werbeplakaten, Kinoprogramme, lokale Informationen, alles konnte man an den Säulen finden. Mit der Massenzuwanderung vom Lande in die Großstadt war ein starker Informationshunger verbunden, manchmal standen Menschen in Gruppen und lasen die Informationen. Der Kinobesuch kostete in meiner Jugend ein paar Groschen, das Programm hatte man vorher an der Litfaßsäule nachgelesen.

Die Litfaßsäulen sind Zeugnisse der Berliner Stadtgeschichte. Sie bestehen aus Blech oder Beton, einige wenige auch aus Asbest. Ungefähr 150 Papierschichten wurden übereinander geklebt, dann wurde abgeschichtet und neu begonnen. In der Nachkriegszeit haben die Alliierten zusätzliche Litfaßsäulen aufstellen lassen, um die Bürger über dieses Medium zu erreichen. Selbst im künstlich geschaffenen Nikolaiviertel findet sich eine Säule, zur 750-Jahrfeier von der DDR aufgestellt. Und ein Denkmal aus Bronze gibt es seit 2006 in der Münzstraße, natürlich in Form einer Säule.

Jetzt werden die Berliner Litfaßsäulen - bis auf 24 denkmalgeschützte - als Sondermüll entsorgt und durch neue ersetzt, teilweise an wirtschaftlich attraktiveren Standorten. Der Senat wollte mehr Einnahmen aus der Stadtwerbung erzielen und hatte die Leistung neu ausgeschrieben. Der bisherige Anbieter Wall kam nicht mehr zum Zuge und muss - weshalb eigentlich? - die Säulen abbauen. Jetzt sollen mit Plexiglas ummantelte digital gesteuerte Säulen an ihre Stelle treten.

Flugs werden die noch nicht abgebauten Berliner Litfaßsäulen zu Orten temporärer Kunstwerke. Dort finden sich aus dem Nichts kommend Grabsprüche wie "Gewaltig wie der Tod ist die Liebe - Was vergangen, kehrt nicht wieder". Oder ihre Flächen werden von Malern zu Kunstorten umgestaltet wie in Frankfurt am Main. Dort wird permanent als Ausstellungsfläche eine "KunstSäule" betrieben. Die Idee dahinter: Reklamesäulen sind ideal für die Kunst, "vertikale Objekte, die dastehen wie eine leere Leinwand".

Und das Innenleben der Reklamesäulen? In Nürnberg ist inzwischen die Litfaßsäulen-Toilette realisiert worden, und niemand hat sich aufgeregt. Am Fluss Wien werden die Litfaßsäulen heute noch als Notausstieg für die aus der Tiefe herauf führenden Wendeltreppen genutzt. Von außen sind die Türen nur mit einem Schlüssel zu öffnen. In Krakau auf dem Rynek werden Litfaßsäulen als Verkaufsstände genutzt. Auch der Einbau von Telefonvermittlungen in die Säulen war in mehreren Städten üblich.

Litfaßsäulen wurden auch zum Einbau von Transformaten genutzt, wie die "Electricitäts-Werke Station" am Mexikoplatz. Die Erstellung der Säule wird dem Zehlendorfer Gartendirektor Emil Schubert zugerechnet, der den Mexikoplatz gestaltet hat. Tatsächlich wird Schubert wohl nur das krönende Dach der Säule entworfen haben und der Stromversorger die technische Anlage, genau wie bei den Trafosäulen am Kollwitzplatz und in Friedrichshagen in der Bölschestraße.

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Villenkolonie Zehlendorf-West
Zwischen Argentinischer Allee und Potsdamer Straße treffen wir auf die für Zehlendorf-West typischen Villen und Landhäuser. Namhafte Architekten und lokale Baumeister waren hier tätig. Wo Beerenstraße und Busseallee zusammen kommen, hat um 1900 ein Maurermeister drei Villen entworfen und gebaut. Über die "Fertigkeiten dieses vielbeschäftigten Maurermeisters" sinniert die Denkmaldatenbank bei einem Eckhaus: "Nicht bürgerlich-zurückhaltende Gediegenheit wurde hier intendiert, sondern das Selbstbewußtsein und die Finanzkraft des Bauherrn sollten demonstriert werden".

Zu einem anderen Wohnhaus heißt es, dass die Gestaltung "keinem historischen Stil eindeutig zugeordnet" werden könne. Die etwas despektierlich daherkommende Beschreibung trifft einen Bauhandwerker, der sicherlich an einer Baugewerkschule umfassenden Wissen auf dem Gebiet der Architektur - auch über Stile - erworben hatte.

Preußisches Verunstaltungsgesetz
Im Jahr 1907 hat Preußen ein Gesetz erlassen, um "Ortschaften und landschaftlich hervorragende Gegenden" vor Verunstaltung zu schützen. Zuständig hierfür war wie bei allen Baufragen die Polizei. Dieses Gesetz gegen "gröbliche Verunstaltungen" gab den Gemeinden die Möglichkeit, durch ein Ortsstatut Bauten und Einrichtungen zu verbieten, die "die Eigenart des Orts- oder Straßenbildes beeinträchtigen" könnten. Aber die Gemeinden waren wohl sehr zurückhaltend mit Ortsstatuten, um Ansiedlungen nicht zu gefährden. Außerdem war die Auslegung schwierig. Sollte nur ein "positiv hässlicher, jedes offene Auge verletzender Zustand" verboten sein, wie das Preußische Oberverwaltungsgericht früher entschieden hatte? Oder war die "Anschauung eines Kreises künstlerisch gebildeter Personen" maßgebend, von der Durchschnittsbetrachter mit dem gesunden Menschenverstand ausgeschlossen waren? Es blieb wohl meist bei der Drohgebärde anstelle der Ortsstatute.

Geistervilla Sven-Hedin-Straße 11
Die Villa in der Sven-Hedin-Straße 11 war eine Dienstvilla des Bundesnachrichtendienstes, das hatte die Zeitung mit den vier Großbuchstaben 2012 herausgefunden. In der NS-Zeit wohnte hier Reichsbankpräsident Hjalmar Schacht. Nach Kriegsende requirierte die amerikanische Besatzungsmacht das Gebäude. Sie nutze es als Konspirative Wohnung für Agenten oder als "Safe House", wie die Zeitung in Anspielung an einen Agententhriller schrieb. Warum und wann die Schlapphüte (Bundesnachrichtendienst) die Villa aufgegeben haben, ist nicht bekannt. Heute ist es eine verfallene und verfallende "Geistervilla" im Bundeseigentum, bewacht auf Staatskosten. Die Villa sei "in erheblichem Umfang sanierungsbedürftig", bestätigt der staatliche Verwalter, sie soll jetzt aber verkauft werden.

Anfänge der Diakonie
“Diakonie an Frauen durch Frauen”, mitbegründet und 12 Jahre lang geleitet durch einen Mann: Der Theologe Friedrich Zimmer und Vertreterinnen der kirchlichen Frauenbewegung gründeten 1894 in Elberfeld einen Diakonieverein, der in Seminaren Frauen für einen Beruf in der Diakonie ausbilden sollte. Bis 1906 blieb Zimmer Vorsitzender des Vereins. Ab 1898 baute er an der Busseallee ein Heim auf mit Frauenoberschule, Kindergärtnerinnenseminar und Fürsorgeanstalt. Auf dem gärtnerisch gestalteten großen Grundstück entstanden weiterhin ein Seniorenwohnheim, ein Heimathaus und die Van Delden-Klinik. Dieses nach der ersten Elberfelder Oberin benannte Krankenhaus wurde 2003 zum Diakonischen Bildungszentrum umgebaut.

Der unzureichende Bildungsstand von Pfarrersfrauen bewegte Friedrich Zimmer zu seiner Initiative. Und im Gesundheitswesen beobachtete er "Krankenwartung" durch unausgebildete Helferinnen statt Krankenpflege. Die bürgerliche Frauenbewegung andererseits kämpfte dafür, berufliche Tätigkeiten in freier eigener Entscheidung aufnehmen zu können. "Starke Frauen und ein Kirchenmann" taten sich so vor 125 Jahren zusammen, gerade ist das Jubiläum des Berliner Evangelischen Diakonievereins gefeiert worden. Friedrich Zimmer gehörte der Freimaurerloge "Urania zur Unsterblichkeit" an, dass die Nachwelt an ihn denkt, hat er mit seinem Lebenswerk erreicht.

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Gasdruck wird an der Volkshochschule geregelt
Am Gemeindewäldchen im Rondell der Rondellstraße unterrichtet die Volkshochschule in einer ortstypischen weißen Villa mit steilen Satteldach. Im Hof steht eine schmale Remise, deren Dach mit Biberschwänzen gedeckt ist. Eine Fledermausgaube schaut als halb geöffnetes Auge auf den Besucher.

Der Gasversorger Imperial Continental Gas Association hat das kleine Hofgebäude 1911 und die Villa 1913 bauen lassen, zwischen den vielen ähnlichen Villen fällt es gar nicht auf, dass hier Bauten für die Gasversorgung entstanden sind: eine Gasdruckreglerstation und ein Bürogebäude für die Gaswerke. Im Jahr 1901 hatte der englische Gasversorger das Gaswerk Mariendorf erbaut, es war die "größte, modernste und technologisch fortschrittlichste Gasanstalt im Berliner Raum". Von dort wurde der Süden Berlins versorgt, die Reglerstation harmonisierte den Gasdruck auf dem Weg zum Endverbraucher.

Auch wenn Gasbehälter und Gasleitungen gefühlsmäßig als Gefahr wahrgenommen werden können, die Volkshochschüler werden sich wohl vor dem Gasregler nicht fürchten müssen, gegen Korrosion ist vorgesorgt. Vier gelbe Hinweisschilder an der Seitenwand beruhigen mit der Beschriftung "KKS", im Klartext "Kathodischer Korrosionsschutz". Um das Gasrohr wird mit Gleichstrom ein elektrisches Feld erzeugt, das die Auflösung des Metalls verhindern soll. Einen Schlag kann man davon nicht bekommen, die Spannung ist vergleichbar einer Taschenlampenbatterie.

Schlacht von Großbeeren
In Großbeeren erinnert ein Gedenkturm an die Schlacht, mit der während der Befreiungskriege Napoleon 1813 davon abgehalten wurde, Berlin erneut zu erobern. "Hier wurde am 23.8.1813 die französische Armee von den preußischen Truppen unter General von Bülow geschlagen. Der Sieg bewahrte Berlin vor drohender französischer Besetzung“ steht an dem Turm in Großbeeren. Nahe der Potsdamer Straße in Zehlendorf steht an der Werderstraße - 10 km von Großbeeren entfernt - eine Gedenkstele, die den 13. August 1813 als den Tag der Schlacht von Großbeeren nennt, also ein 10 Tage früheres Datum. Es sei der Standort eines preußischen Postens gewesen. Tatsächlich zogen die verschiedenen Truppen überwiegend südlich von Großbeeren auf und selbst bei einer wilden Verfolgungsjagd kamen sie nur bis Heinersdorf südlich von Berlin: "Eine regelrechte wilde Jagd stob mitten durch die preußische Infanterie in Richtung auf Zehlendorf und Berlin. In der Dunkelheit waren Freund und Feind kaum zu unterscheiden. Erst hinter Heinersdorf löste sich das Knäuel, in wütendem Nachtgefecht gewannen die preußischen Reiter die Oberhand".

Der preußische Posten in Zehlendorf wird sich also ziemlich gelangweilt haben, wenn er überhaupt zur richtigen Zeit vor Ort war. Außer Geschützdonner und vielleicht Gewehrsalven hätte er an diesem Ort nichts mitbekommen. Die gemauerte Stele steht in einem Garten, an dem man achtlos vorbeigehen könnte. Als Gedenkort ist sie in keiner Quelle online verzeichnet.



Am Mexikoplatz begnügen wir uns statt eines Flaniermahls mit einem Cappuccino und einem Stück Obstkuchen. Wie immer in dieser Jahreszeit muss man aufpassen, dass man nicht in eine anhängliche Wespe beißt und sie sich dafür mit einem Stich in die Zunge bedankt. Seit ich einmal mitbekommen habe, wie schnell eine Zunge den Mundraum zuschwellen kann, achte ich auf jedes Zubeißen. Genau hinschauen, das haben wir Flaneure ja ohnehin drauf.

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