Unermüdliche Fürsorge und warme Teilnahme

Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Hermsdorf
Stadtplanaufruf: Berlin, Kneippstraße
Datum: 28. Juli 2014
Bericht Nr: 472

Ein "Fürstenkonzern" gründet 1890 eine Terraingesellschaft, die "Deutsche Volksbaugesellschaft", um ärmeren Schichten der Bevölkerung preiswertes Wohnen auf dem Lande zu ermöglichen. Die Volksbaugesellschaft baut Doppelhäuser, Einzelhäuser und einfache Villen in Hermsdorf (unserem heutigen Ziel), Wilhelmshagen (1), Lichterfelde (1a). Wer waren diese Fürsten und was bewegte sie zu dieser Initiative?

Da ist zunächst Fürst Pleß (vollständiger Name: seine Durchlaucht, Hans Heinrich XI., Graf von Hochberg, Fürst von Pleß, Freiherr von Fürstenstein), ein Mann aus deutschem Ur-Adel (seit 1185). Uns begegnete er schon einmal an der Wilhelmstraße als Bauherr der "Schornsteinfeger-Akademie", so verspotteten die Berliner sein Palais mit den vielen Schloten (2). Er besaß eines der größten Vermögen im Deutschen Reich vor dem Ersten Weltkrieg (Großgrundbesitz, Steinkohlegruben). Verheiratet war Pleß mit Marie von Kleist, einer Verwandten des Dichters.

Weiter gehörte zum "Fürstenkonzern" der Graf Helmuth von Moltke, preußischer Generalstabschef mit einem vierjährigen Intermezzo als Heerführer im Osmanischen Reich, von ihm als "Begebenheiten in der Türkei" in einer Biografie beschrieben. Man nannte ihn den "große Schweiger“, weil er sich lange vornehm zurückhielt, um dann einen Kernsatz wie "Getrennt marschieren, vereint schlagen" in die Debatte zu werfen. Auch der Kaiser musste mit Moltkes Wortkargheit zurechtkommen, statt einer Geburtstagslaudatio sagte Moltke nur: "Meine Herren, der Kaiser hurra, hurra, hurra!". Moltke hat eng mit Bismarck zusammen gearbeitet und mit ihm zusammen die Gründung des Kaiserreichs 1871 vorangetrieben.

Ein anderer Fürst in dem "Konzern" war Graf Friedrich von Frankenberg und Ludwigsdorf, Großgrundbesitzer und Ritter des Malteserordens. Auch er lag auf Bismarcks Linie im Reichtag, war mit ihm befreundet. Als Freikonservativer bekämpfte er Steuerreformen, die einen sozialistischen Zug zu haben schienen.

Ein weiteres Mitglied des "Fürstenkonzerns" war Otto I., Fürst zu Stolberg-Wernigerode. Er war Bismarcks Stellvertreter als Reichskanzler. Stolberg-Wernigerode "kämpfte" an zwei Fronten, mit Bismarck trat er für das "Gesetz gegen die gemeingefährlichen Bestrebungen der Sozialdemokratie" ein, gleichzeitig bemühte er sich, die elenden Lebensumstände der Arbeiter zu verbessern. Wikipedia vermutet, "mit Zugeständnissen an die Arbeiterklasse wollte er den Einfluss der Sozialdemokratie verringern und die bestehende Ordnung erhalten". In einem Zeitungsartikel in "Hottinger’s Volksblatt" von 1878 wird dagegen die hehre Absicht des vorbildlichen Adligen in den Himmel gehoben. Hier - weil es so schön ist - ein wörtliches Zitat:

"Wenn der erlauchte Herr nun, [...] einen wesentlichen Theil seiner Zeit und Kraft dem großen Vaterlande gewidmet hat und damit noch fortfährt, so versäumt er andrerseits doch auch nicht, den Angelegenheiten seiner engern Heimath und zumal den weiten Kreisen der ihm Untergebenen, der in seinem Dienst beschäftigten Arbeiter, seine unermüdliche Fürsorge und warme Theilnahme an ihrem Ergehen überall zu bethätigen. So ist es ein besonders lebhafter Wunsch des Grafen, daß jedem der letztern, wenn irgend möglich, ein behagliches Daheim geschaffen werde, wo er nach angestrengter Tagesarbeit Erholung für Leib und Seele empfangen kann".

Nun weiß man, warum diese Männer sich als "Fürstenkonzern" zusammengefunden haben, um die "Deutsche Volksbaugesellschaft" ins Leben zu rufen. In der von ihnen gegründeten Kolonie Wilhelmshagen in Rahnsdorf hießen Straßen nach ihnen, die aber im Jahr 1951 umbenannt wurden, weil man monarchistische oder militaristische Personen nicht mehr ehren wollte. In Hermsdorf werden der "Kolonie der Deutschen Volksbaugesellschaft" mehrere Häuser in der Schramberger Straße und Backnanger Straße zugerechnet. Interessant ist, dass die Käufer von Häusern der Volksbaugesellschaft für 90 % des Kaufpreises eine Lebensversicherung abschließen mussten, die zugleich im Todesfall als Sicherheit diente und im Erlebensfall den Kaufpreis tilgte. In der Bundesrepublik ist das mit ganz anderer Zielsetzung als Steuersparmodell wieder entdeckt worden, bis die Finanzverwaltung dem einen Riegel vorgeschoben hat.

Unser heutiges Ziel ist Hermsdorf westlich der Bahn, die östliche Seite hatten wir im letzten Monat erforscht (3). Nachdem die Solquelle dort versickert war, war es mit dem Kurbad vorbei. Aber auf der westlichen Seite wurde an der Kneippstraße und Kurhausstraße ein Kneipp-Waldsanatorium in einer ehemaligen Nervenheilanstalt eingerichtet. Statt einer Naturquelle war jetzt Wassertreten angesagt. Zuerst nannte sich das Sanatorium "Hohenzollernbad", die Hohenzollernstraße verweist noch heute auf das Bad und nicht direkt auf das preußische Adelsgeschlecht. Aus dem Kneipp-Sanatorium wurde eine Klinik für Zuckerkranke, dann ein Kriegslazarett, dann ein Altenheim, schließlich ein Wohngebäude.

Wofür borgen sich Dominikaner-Schwestern 1,3 Mio. Gulden, kann man sich fragen, wenn man die historische Urkunde über eine Anleihe vom 1.11.1929 sieht. Natürlich nicht für sich selbst, sondern zum Ausbau des Dominikus-Krankenhauses in der Kurhausstraße. Das direkt an das Kurbad angrenzende, 14.000 qm große Grundstück, hatten sie kurz vor 1900 von der "Gesellschaft zur Begründung eigener Heimstätten" geschenkt bekommen. Die Dominikanerinnen begannen mit dem Aufbau eines Waisenhauses, dann folgten ein Erholungsheim für Erwachsene und schließlich das Krankenhaus. Als Bauherr trat übrigens laut Denkmaldatenbank Fürst Stolberg-Wernigerode aus dem "Fürstenkonzern" auf. Noch heute besteht das Dominikus-Krankenhaus als Klinik mit mehr als 250 Betten.

Wer war die "Gesellschaft zur Gründung eigener Heimstätten", die den Dominikanerinnen eine so wertvolle Grundstücksschenkung machen konnte? Diese Gesellschaft hatte 1893 im westlichen Hermsdorf 120 Morgen Land gekauft, das sind 300.000 qm, größer als das Berliner Messegelände. Einer der Geschäftsführer war der katholische Volksschullehrer Christoph Albrecht, der offensichtlich lieber Immobilien entwickelte als Kinder zu unterrichten. Immerhin baute er 1894 eine Schule, die private höhere Knabenschule in der Fellbacher Straße, aus der das Georg-Herwegh-Gymnasium hervorgegangen ist. Das Schulgebäude war einem belgischen Schloss nachempfunden, ist allerdings nicht mehr erhalten, 1928 wurde auf einem anderen Grundstück der heutige Bau errichtet. Die Heimstättengesellschaft förderte die Ansiedlung katholischer Einrichtungen in ihrem Gebiet, das im Volksmund bald "katholisch Hermsdorf" hieß, da war es eine gute Marketingmaßnahme, ein vorhandenes Grundstück unentgeltlich für einen Krankenhausbau abzugeben.

Den Dominikanerinnen ist sogar ein "Gefallenendenkmal" auf dem Friedhof Hermsdorf nördlich des Krankenhauses gewidmet, so nennt es jedenfalls das Heimatmuseum Reinickendorf. Das ist ungewöhnlich, denn mit dem Begriff verbindet man den Tod durch Kampfhandlungen im Krieg. Tatsächlich haben die Schwestern nicht an Kampfhandlungen teilgenommen, sondern sind bei einem Bombenangriff ums Leben gekommen. Den Toten sind Begriffe egal, aber für die Lebenden ist es ein Unterschied, ob die Nonnen mit der Waffe gekämpft haben oder Bombenopfer wurden (3a).

Ein ungewöhnlich gestaltetes Doppelgrab jugendlicher Geschwister lässt uns innehalten. Zwei Kopfkissen mit den Namen von Bruder und Schwester, ein Gedenkstein der Mitschüler, ein Briefkasten (US-Mailbox). Und dann Pickel und Seil als Hinweis auf das Bergunglück, bei dem die beiden abstürzten, ihr Vater überlebte. Sie waren erfahrene Bergsteiger, aber als sie kletterten, waren die beiden nicht angeseilt, das Seil auf dem Grab lässt einen frösteln. "Du hast den Garten verlassen, doch Deine Blumen blühen weiter", haben die Mitschüler der Evangelischen Schule auf den Gedenkstein geschrieben.

Der Friedhof Hermsdorf ist eine Landschaft mit Berg und Tal, der historische Wasserturm inmitten des Parks bleibt uns hinter dem üppigen Grün verborgen. Die Landschaftsplanung stammt von Ludwig Lesser (4), der nebenan in Frohnau Plätze, Straßen und den Friedhof angelegt hat (5), in der Tuschkastensiedlung mit Bruno Taut zusammenarbeitete (6), die Grünanlagen in der Weißen Stadt schuf (7) und eine Fülle von weiteren Garten- und Grünanlagen in Berlin schuf. Auf dem Friedhof Hermsdorf gibt es keine historischen Erbbegräbnisse, die beiden Ehrengräber sind lokalen Größen gewidmet. Es fällt aber auf, dass hier vielfach bei modernen Gräbern versucht wird, einen eigenen Stil zu entwickeln, der die Grabmale gleichzeitig eindrucksvoll und unaufdringlich wirken lässt.

Auf einem Weg im Friedhof begegnet uns ein Fuchs, der erstmal schaut, wer da kommt, bevor er sich trollt. Er ähnelt damit seinem steinernen Ebenbild vor dem S-Bahnhof Hermsdorf. Dort auf dem Max-Beckmann-Platz steht auch eine Beckmann-Skulptur als Erinnerung an Beckmanns erste Künstlerjahre. In der Ringstraße 8 in Hermsdorf hat Max Beckmann mit seiner ersten Frau Minna Tube gewohnt, sie als Künstlerin hatte das Haus selbst entworfen. Von der Malerei - die Beckmann ihr nicht weiterhin gestatten wollte - kam sie zum professionellen Gesang. "Sie vermochte den Wagner-Weibern einen Hauch von Menschlichkeit und Charme zu geben", lese ich in einem Artikel, und weiter geht es dort: "Als Beckmann sie verließ, brachte die Sängerin keinen Ton mehr heraus; sie hat nie
wieder gesungen". Nach Beckmanns Tod gründete sie die "Max Beckmann Gesellschaft" und arbeitete mit seiner zweiten Frau Quappi an seinem Vermächtnis. Man sieht, Liebe ist, was man mit dem Herzen fühlt, und das kann gewaltiger sein als das wirkliche Leben.

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(1) Kolonie Wilhelmshagen in Rahnsdorf: Menschenfischer
(1a) Lichterfelde: Im Vorgarten reitet der Kaiser
(2) "Schornsteinfeger-Akademie": Aufstieg und Fall (in) der Wilhelmstraße
(3) Hermsdorf östlich der Bahn: Berliner Kurorte und Heilbäder
(3a) In Mariendorf gibt es ein Gemeinschaftsgrab für "gefallene"
BVG-Mitarbeiterinnen: Hitlerjunge bei der Bergpredigt
(4) Mehr über Ludwig Lesser: Lesser, Ludwig
(5) Frohnau: Die steuerfreie Stadt
(6) Tuschkastensiedlung: In Natureinsamkeit bei brausender Weltstadt
(7) Weiße Stadt: Ein Meisterwerk der menschlichen Schöpferkraft

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Berliner Kurorte und Heilbäder
Ein verwunschenes Dorf