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Rückzug ins Taubenhaus


Stadtteil: Spandau
Bereich: Gatow
Stadtplanaufruf: Berlin, Alt-Gatow
Datum: 16. September 2013
Bericht Nr: 434

Auf dem Windmühlenberg in Gatow steht eine Windmühle. Hier ist die Welt noch in Ordnung, könnte man denken, aber diese Windmühle ist eine Attrappe. Keine täuschend ähnliche Nachbildung, sondern schon eine echte Windmühle, die aber vorgibt, das Original zu sein. Dabei ist sie erst 2004 auf dem seit mehr als 80 Jahren leeren Gatower Windmühlenberg aufgestellt worden war. Eine Funktion kann sie nicht mehr erfüllen, dafür haben sich die Bäume den Hügel viel zu lange erobert und lassen nicht genug Wind durch. Aus Wusterhausen in der Prignitz ist die Mühle hierher gebracht worden. Man sieht es dem Hügel in Gatow nicht an, dass hier seit 1845 rund 80 Jahre lang eine andere Windmühle stand und dann gut 80 Jahre lang keine mehr. Wo war 1921 die alte Mühle geblieben?

Das führt uns in die Stummfilmzeit, die nicht nur ohne Sprache war, sondern auch technische Effekte kaum simulieren konnte - die virtuelle Welt können erst unsere Zeitgenossen beliebig ins bewegte Bild bringen. Also musste man damals reale Szenen drehen, wie beispielsweise Lubitsch in Südende ("Das Weib des Pharao"), wo in der Dünenlandschaft der Rauhen Bergen Massenszenen vor einer dort errichteten Sphinx und einen Pharaonen-Palast gefilmt wurden (1). Ähnlich war es am Gatower Windmühlenberg, wo die inzwischen funktionslose Windmühle beim Filmdreh von "Die Liebesabenteuer der schönen Evelyne - Die Mordsmühle auf Evenshill" bewusst regelrecht abgefackelt wurde. Ein Remake des "Tigers von Eschnapur" sollte entstehen, jenem bemerkenswerten Fantasy- und Abenteuer-Film nach Story und Drehbuch von Fritz Lang und seiner Frau Thea von Harbou. Für die erste Verfilmung von Joe May waren in Woltersdorf Tempel und der Maharaja-Palast aufgebaut worden, der Zirkus Sarrasani stellte Tiere zur Verfügung. Erst 1959 konnte Fritz Lang selbst Regie führen für eine weitere Verfilmung des Themas.

Zurück zum Windmühlenberg: Der "Liebesabenteuer"-Film, den Richard Eichberg unter anderem in Gatow drehte, würde nach heutigen Maßstäben wahrscheinlich als Softporno eingestuft werden. Der Film wurde in Deutschland und in den USA indiziert und verschwand bald in der Versenkung. Auf einer Internet-Plattform wird er zum Download angeboten, aber nach dem Anklicken warnt die Antiviren-Software dringend vor weiterem Verbleiben auf der Seite, die offensichtlich eher Computerviren als eine Filmkopie im Angebot hat. Und was die Informationen über die Entstehung des Films betrifft, da schreiben alle anderen Plattformen bei Wikipedias "Windmühlen in Berlin" ab. Der Regisseur Eichberg, der sonst noch Filme gedreht hat wie "Großstadtschmetterling", "Der Weg zur Schande", hat offensichtlich keinen wesentlichen Eindruck bei seiner Nachwelt hinterlassen.

Auf dem Windmühlenberg liegt ein Naturschutzgebiet mit einer Steppenvegetation, die früher in Berlin weiter verbreitet war, heute aber Seltenheitswert hat. "Offensandige Flächen mit charakteristischer Sand-Trockenrasenflora" nennt das die Stadtentwicklungsverwaltung. Wenn Niederschläge schnell verdunsten oder im Kies und Sand versickern, bieten sich den Pflanzen kaum Nährstoffe aus dem Boden. Unter diesen extremen Bedingungen gedeihen nur spezialisierte Arten, die woanders nicht zu finden sind. Hungerkünstler und Wassersparer müssen sie sein. Flechten, Kräuter, Moose, Silbergras sind hier beispielsweise zu finden in einer lückenhaften Vegetation, die den Boden nicht vollständig bedeckt.

Alt-Gatow, die Dorfstraße von Gatow, war bis zur Wende nur eine regionale Zubringerstraße, hinter dem Nachbardorf Kladow stand die Mauer, dort war die Welt zu Ende. Vielleicht liegt es an dieser Sackgassenlage, dass Gatow einiges von seinem dörflichen Charakter bewahren konnte. Eine ausgeprägte Villenbebauung wie in Kladow (2) gab es in Gatow sowieso nicht, dafür liegt es zu sehr eingeklemmt zwischen Havel und Rieselfeldern. Nur die Villa Lemm steht als Solitär direkt am Havelufer.

Otto Lemm - der Erbauer der Villa - hatte mit Schuhputzmitteln ("Urbin, der gute Schuhputz") ein beachtliches Vermögen geschaffen. Er kaufte in Gatow Ländereien, die sich vom Rothenbücher Weg bis zur Haveldüne in Weinmeisterhöhe (3) und von der Havel bis zur Gatower Straße erstreckten. Auf dem heute umfriedeten (Rest-)Areal erbaute er Villa, Pförtnergebäude, Wirtschaftsgebäude, Gewächshaus, Gartenpavillons und Bootshaus. An der Gatower Straße steht das Wirtschaftsgebäude für seine Ländereien und das Landhaus Clara Lemm, das seine Tochter sich errichten ließ. Produziert wurden die Schuhcremes und Putzmittel in einem Fabrikgebäude am Nonnendamm 17. Von hier aus konnte er auf den Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchhof herüberschauen, auf dem er seine letzte Villa errichten ließ - von demselben Architekten Max Werner, der auch die ersten Gatower Bauten entworfen hatte. In der überkuppelten Grabkapelle mit Andachtsraum und Altar werden in Deckengemälden die (mutmaßlichen) Tugenden des Verstorbenen dargestellt: Glaube, Liebe, Sanftmut, Weisheit (3a).

Auch der letzte Eigentümer der Villa Lemm - der im Juli verstorbene Hartwig Piepenbrock - hatte wie Otto Lemm sein Vermögen in der Branche "Putzen" erworben: Er war Chef von europaweit 35.000 Mitarbeitern im Bereich Gebäudereinigung und Gebäudemanagement. Piepenbrock wohnte in der Villa Lemm und hatte dort auch ein Büro als Honorarkonsul der Bahamas. Nach Otto Lemm und vor Hartwig Piepenbrock gab es zwei weitere Eigentümer des Anwesens: Bis zu seiner Emigration während der Nazizeit unterhielt der Arzt Janos Plesch hier so etwas wie einen Berliner Salon, in dem auch Albert Einstein öfter zu Gast war. Nach dem Zweiten Weltkrieg residierte in der Villa der Britische Stadtkommandant. Ein Tennisplatz und ein Swimmingpool, die in der britischen Zeit angelegt wurden, sind inzwischen wieder zurückgebaut worden.

Die Gatower Dorfkirche ist - wie bei vielen Berliner Dörfern - der älteste Bau des Ortes: Eine Feldsteinkirche aus dem 13.Jahrhundert, umgeben von einem Kirchhof, der sehr aufgeräumt aussieht, und das meine ich im Sinne von "weggeräumt". Nur die Umgebungsmauer hält ältere Zeugnisse bereit, beispielsweise ein Kriegerdenkmal in Form eines Wandreliefs von 1925 mit der Inschrift: "Geschichte verzeichne die Taten der Helden / und Frieden o schmück der Gefallenen Grab". In unserer Zeit verzichtet man lieber auf Heldentaten und geschmückte Gräber der Gefallenen, aber das Sterben der Soldaten muss man immer zu einer Heldentat stilisieren, um dem Geschehen einen Sinn und den Hinterbliebenen einen Trost zu geben.

Am alten Dorfhaus gleich neben der Kirche ist noch der Schriftzug "Feuerwehr" zu sehen, die Freiwillige Feuerwehr selbst ist nach mehr als 100 Jahren in einen Neubau weiter nördlich an der Gatower Straße umgezogen. Tatsächlich fand der Umzug gerade erst im August 2013 statt, symbolisch will man ihn im Oktober bei einem Tag der Offenen Tür noch einmal wiederholen. Auch eine Kinderfeuerwehr gibt es hier seit letztem Jahr. Die Kinder waren zum "Ehrenspalier" angetreten, als Innensenator Frank Henkel die neue Wache besichtigte.

Vier denkmalgeschützte Taubenhäuser gibt es noch in Berlin, zwei davon hatten wir in Bohnsdorf gesehen (4), auf unserem Weg durch Gatow finden wir ein weiteres, das mit einer Retirade im Erdgeschoss kombiniert ist. "Retirade" - das ist eigentlich ein Begriff aus dem Festungsbau und bezeichnet einen Bereich, wohin die Verteidiger sich zurückzogen, wo sie ausruhen konnten. Beim Taubenhaus ist mit der Retirade der Rückzug aufs stille Örtchen gemeint - es handelt sich um ein Klo. Ohne hier gleich eine Kulturgeschichte der Toilette schreiben zu wollen, auf zwei Annehmlichkeiten musste man bei der Retirade im Taubenhaus wohl verzichten: ein Otohime, einen Lautsprecher, der in Japan Körpergeräusche übertönen soll, und ein Gebläse, das öfter in Italien zu finden ist, um die Gerüche zu beseitigen.

Westlich der Gatower Straße beginnen die Rieselfelder von Gatow-Karolinenhöhe, deren Ausdehnung den Großen Tiergarten noch übertrifft. In den 1860er Jahren wurde die Berliner Kanalisation geschaffen, bis dahin flossen die Abwässer oberirdisch über die Rinnsteine durch die Straßen, die ganze Stadt war eine Ekel erregende Kloake. Mit einem Radialsystem von 12 Pumpwerken wurden die in der Kanalisation aufgefangenen Abwässer auf Versickerungsflächen außerhalb der Stadt verbracht (6). Auch die Industrie entsorgte ihre Abwässer über die Kanalisation, wodurch sich Schwermetalle und andere Schadstoffe im Boden anreicherten. Ab den 1960er Jahren wurden zunehmend Klärwerke gebaut und parallel dazu Rieselfelder stillgelegt. In Gatow wurde ein Teil der Flächen noch bis vor wenigen Jahren genutzt, um gereinigtes, aber gering belastetes Wasser zu versickern. Inzwischen wird auch dieses "Klarwasser" im Klärwerk Ruhleben behandelt. Die freigewordenen Flächen wurden zu Naherholungsgebieten und landwirtschaftlichen Flächen. Inzwischen hat man die Altlasten der Rieselfelder erkannt und probeweise versucht, mit Geschiebemergel (Sand, Kies, Ton) die Schadstoffe zu binden, die sich meist noch im Oberboden befinden und damit noch nicht ins Grundwasser eingedrungen sind.

Die Gatower Rieselfelder sollen verkauft werden, diese Nachricht hat die Spandauer aufgeschreckt. Einer der Interessenten ist ein Berliner Groß-Gastronom, dessen Interesse für die Altlastenflächen mit Skepsis gesehen wird. Die Initiative "Rettet die Gatower Rieselfelder" hatte erstmal Erfolg, das Bezirksamt hat den Verkauf gestoppt, allerdings nur bis zum Vorliegen von Bodengutachten.

Ein späterer Spaziergang soll uns zum ehemaligen Flugplatz Gatow, der Fliegerhorstsiedlung und dem Landschaftsfriedhof Gatow an Rande der Rieselfelder führen, aber das ist ein neues Projekt (7).

Das "Wirtshaus Gatow" wird gerade renoviert, aber es gibt ja noch andere Gaststätten, um vor dem Heimweg unser abschließendes Flaniermahl mit Lokalkolorit einzunehmen. Unsere Wahl fällt auf ein Lokal in einen attraktiven Altbau, die Ausstattung gefällt, das Essen weniger.

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(1) Lubitsch-Filmdreh in Südende: Schneller als Ruhm schwinden die Börsenkurse
(2) Kladow: Malerische Auseinandersetzung mit Fresken
(3) Unser Spaziergang an der Haveldüne in Weinmeisterhöhe: Zu Pferde durch die Havel
(3a) Die Grabkapelle Lemm auf dem Kaiser-Wilhelm-Gedächtnis-Kirchhof: Säuglingspalast mit Kuhstall
(4) Mehr über Taubenhäuser: Tauben im Paradies
(6) Mehr über die Rieselfelder: Ostkreuz - Richtung Westkreuz
und Rieselfelder
(7) Flugplatz Gatow, Fliegerhorstsiedlung und Landschaftsfriedhof Gatow: Der vierte Flughafen


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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Zu Pferde durch die Havel
Spandauer Kuriositäten