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Nachdenkliches an der Stundensäule


Stadtteil: Schöneberg
Bereich: Bayerische Platz, Innsbrucker Platz
Stadtplanaufruf: Berlin, Salzburger Straße
Datum: 17. November 2008

Am Innsbrucker Platz steht eine Postsäule mit der Entfernungsangabe: "1 Meile von Berlin". Auf kursächsischen Postsäulen wie in Dahme/Mark wird die Entfernung nicht in Meilen, sondern in Stunden angegeben, eine Meile entspricht dort 2 Stunden. Säulen im Abstand von einer halben Meile ("Stundensäule") gab es unter anderem in Bayern. In Ismaning ist eine Pest- und Stundensäule erhalten, die gleichzeitig an die Vergänglichkeit der Zeit erinnert mit folgender Inschrift:

Ich lebe und weiß nicht wie lang.
Ich sterbe und weiß nicht wann.
ich fahre und weiß nicht wohin.
mich wundert's nur, daß ich so fröhlich bin.
Das Sterben hat eine harte Reis'.
weil man den Weg nicht weiß.
So ruft man Maria, Josef und Jesus an.
damit man den rechten Weg finden kann.

Steine mit Entfernungsangaben gab es bereits - wie sollte es anders sein - im Altertum bei den Assyrern, den Römern und den Chinesen. Die Griechen kamen auf die Idee, populäre Sprüche einzugravieren. Um 1700 begann man in Sachsen, Postmeilensäulen zu errichten. Es gab Distanzsäulen, Ganz- und Halbmeilensäulen und Viertelmeilensteine. Auch andere deutsche und europäische Ländern kannten Distanzsäulen. Um 1875 wurde das metrische System eingeführt, die Postsäulen und Meilensteine verloren damit ihre Bedeutung.

Die Meilensäule markiert das Ende unserer heutigen Stadtwanderung vom Bayerischen (1) zum Innsbrucker Platz (2). Beides Plätze, die den Namen nicht mehr verdienen, weil sie durch Kriegseinwirkung, Neubebauung und genauso verheerend durch die Realisierung der "autogerechten Stadt" in der Nachkriegszeit ihre Form und Geschlossenheit verloren haben. Glücklicherweise ist es dunkel, so dass die klobige Scheußlichkeit des überflüssigen U-Bahngebäudes am Bayerischen Platz nicht ganz so sichtbar wird. Wegen seiner exemplarischen Gestaltung wird er wohl irgendwann Denkmalschutz erlangen, damit die Verirrungen der Architektur einer Nachkriegsepoche erhalten bleiben (3).

Vom Bayerischen Platz zeigt eine Sichtachse durch die Salzburger Straße zum Rathaus Schöneberg. Von den Schöneberger Stadtvätern etwas sehr großzügig geplant, fand in diesem Rathaus im geteilten Berlin nach dem 2.Weltkrieg neben der Bezirksverwaltung auch das Abgeordnetenhaus und der Regierenden Bürgermeister genügend Platz. Neben dem Rathaus im Volkspark steht das Schöneberger Wappentier, ein goldener (eigentlich roter) Hirsch, auf einer Säule vor dem U-Bahnhof. Das Gebäude der U-Bahn liegt nicht unterirdisch, sondern wegen des sumpfigen Untergrundes ebenerdig im Park und sieht eher einer Orangerie als einem Verkehrsbau ähnlich. Es hat Fenster auf beiden Seiten, man schaut auf den Ententeich und den goldenen Hirschen. Vom Park führen breite geschwungene Treppen zur Carl-Zuckmayer-Brücke hinauf, die sich direkt über dem U-Bahnhof befindet. Auf dem steinernen Brückengeländer warten Tritonen (Meeresgötter) darauf, Nymphen über das Fenn zum anderen Ufer zu tragen, aber sie haben nichts zu tun, denn der Park ist keine Wasserfläche mehr.

Diese U-Bahnstrecke hatten die reichen Schöneberger 1910 als erste kommunale U-Bahn Deutschlands selbst gebaut, weil die Hochbahngesellschaft nicht für diese Idee begeistert werden konnte. Die Schöneberger kauften eigene Wagen und errichteten nahe der Hauptstraße ein Umformerwerk, eine Wendeanlage, eine kleine Werkstatt und am Nollendorfplatz einen überdachter Fußgänger-Überweg.

Für die Verlängerung der U-Bahn Richtung Steglitz (Phantomlinie U10) wurde nach dem 2.Weltkrieg ein Teil der Gründerzeitbauten am Innsbrucker Platz abgerissen. Das neu gebaute, aber nicht eröffnete U-Bahn-Teilstück wurde später durch die Stadtautobahn abgeklemmt. Unerschrocken baute man unter der Hauptstraße einen neuen Geisterbahnhof mit 200 Meter Anschlusstunnel. Auch dieser blieb "blind", weil die Linie nach Rathaus Steglitz über die Bundesallee angeschlossen wurde. Der oberirdische Teil des Innsbrucker Platzes verlor seinen Platzcharakter dann endgültig durch die Zu- und Abfahrten der Stadtautobahn, die wie Krakenarme nach der Hauptstraße fassen.

Auf der anderen Seite des Schöneberger Rathauses steht das Nordsternhaus, das nicht nur architektonisch wegen seiner abgerundete Fassade bemerkenswert ist. Auch die Inneneinrichtung war fortschrittlich: Das 1914 fertig gestellte Gebäude hat eine Rohrpostanlage, getrennte Aktenaufzüge, eine zentrale Uhrenanlage, eine Frischluftanlage und einen Springbrunnen im geräumigen Innenhof. Die jetzt dort ansässige Justizverwaltung scheint eine weitere Innovation eingefügt zu haben: einen Schleudersitz, seit Justizsenatorin Gisela von der Aue wegen zahlreicher Skandale schwer in die Kritik geraten ist, wie welt.de berichtete (4).

Auf der Friedenauer Seite der Hauptstraße finden wir in der Trattoria del Corso einen (zumindest heute) lustlosen Service, der aber trotzdem Essbares auf den Tisch bringt.

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(1) Mehr zum Bayerischen Platz: Bayerischer Platz
(2) Mehr zum Innsbrucker Platz: Innsbrucker Platz

(3) Diesen Text habe ich 2008 geschrieben. Inzwischen habe ich verstanden, dass die "Nachkriegsmoderne" eine eigenständige Epoche der Architektur ist, die ihren Platz verdient, auch wenn ihre Ästhetik uns heute fremd ist. Es ist wie mit dem Nierentisch, der die Dynamik und Ausdrucksform der Aufbaujahre nach dem Krieg repräsentiert, ohne dass man ihn sich heute ins Wohnzimmer stellen wollte. Beim Denkmalschutz geht es hier nicht um Schönheit, sondern um die erhaltenswerte Ausdrucksform einer vergangenen Epoche. Dass die Akzeptanz gewachsen ist, zeigt sich auch an dem Architekturführer Nachkriegsmoderne, den Wissenschafter_innen 2013 herausgegeben haben.

(4) Nachtrag im Dezember 2011: Der „Schleudersitz“ im Nordsternhaus ist erst beim Nachfolger der Justizsenatorin Gisela von der Aue "aktiviert" worden: Notar Braun musste wenige Tage nach seiner Ernennung zum Justizsenator wegen anrüchiger Notariate seinen Sessel räumen.


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