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Wurzelberg - Wiesenberg - Granatenberg


Stadtteil: Reinickendorf
Bereich: Provinzstraße
Stadtplanaufruf: Berlin, Granatenstraße
Datum: 1. Dezember 2015
Bericht Nr: 529

„Wenn ick for Mutter Essig hol, denn koof ick immer nur Surol“

Etwas holprig, dieser Werbespruch und richtiges Berlinisch is det ooch nich. Und was ist überhaupt "Surol"? Wenn man aus dem Wort "Sauerkohl" jeden zweiten Buchstaben weglässt, dann ergibt sich "Surol". Diesen Namen erfunden hat das Unternehmen Carl Kühne. Essig war das erste Produkt des 1722 gegründeten Unternehmens und der erste Markenartikel überhaupt, der 1906 beim Kaiserlichen Patentamt eingetragen wird. Die Essigbrauerei Kühne war bereits seit 1876 stolzer Königlicher Hoflieferant. Um 1900 wurde die Produktpalette um Senf, Mayonnaise, Gewürzgurken und Sauerkraut erweitert. Seit den 1950er Jahren kann man auch Convience-Food ("Bequemes Essen") von Kühne kaufen, vorgefertigte Lebensmittel wie Rotkohl im Glas, Salatdressing, eingelegtes Gemüse.

Dass die Carl Kühne KG an der Kühnemannstraße (Ecke Provinzstraße) produziert, ist ein Zufall, Kühne und Kühnemann haben nichts miteinander zu tun. Der Kommerzienrat Fritz Kühnemann betrieb eine Maschinenfabrik, geehrt wurde er aber als Spiritus Rector (treibende Kraft und lenkender Geist) der Berliner Gewerbeausstellung im Treptower Park 1896. Seit 1851 hatten Weltausstellungen in Paris, London, Chicago und anderen Orten Millionen von Menschen angelockt, um Inszenierungen des weltweiten Fortschritts, der Modernität und der Zivilisation zu sehen. Doch als Deutschland 1896 die Chance bekam, eine Weltausstellung auszurichten, zeigte sich der darstellungssüchtige Kaiser Wilhelm II. plötzlich als Kleingeist und verhinderte das Projekt. Wenigstens eine Berliner Gewerbeausstellung wurde dann durch den engagierten Einsatz von Fritz Kühnemann durchgesetzt, die er dann mit organisierte und leitete.

Dem Quartier links und rechts der Reinickendorfer Provinzstraße ist unser heutiger Rundgang gewidmet. Es ist kein Kiez mit eigener Identität, und dann fehlt dem Quartier auch noch ein übergreifender gemeinsamer Name. Auch die Straßenbenennungen haben keinen inneren Zusammenhang. So sind Straßen nach Jahreszeiten benannt, aber nur Sommer, Herbst und Winter findet man hier, der Frühling liegt in Pankow jenseits der Bahntrasse. Viele Straßen führen den Namen von früheren Grundbesitzern (Amende, Hoppe, Ebenstein, auch Hausotter ist der Name eines Grundstückseigentümers). Völlig aus dem Rahmen fällt die Granatenstraße, die schon seit 150 Jahren so heißt. Sie verweist auf die historische Nutzung als Schießplatz.

Friedrich der Große hatte einen Artillerie-Schießplatz hier angelegt, der sich bis zum Luisenbad in Gesundbrunnen erstreckte. Heute nicht mehr vorhandene Höhen wie der Wurzelberg und der Wiesenberg wurden mit einbezogen. Östlich der Residenzstraße waren Schanzen aufgeschüttet und Schneisen geschlagen worden. Auf der Höhe der Granatenstraße fingen die Granatenberge als Kugelfang die vom Schießplatz abgefeuerte Munition ab. Im Jahr 1828 wurde der Schießplatz in die Jungfernheide verlegt. Das ehemalige Militärgelände hat man freigemacht. 1867 war der Granatenberg noch im Stadtplan eingezeichnet, später zogen hierher dann mehrere Fabriken. Die Fabrikgelände wurden mit Stichbahnen an den Güterbahnhof Schönholz angeschlossen, Reste der Trassen sind heute noch sichtbar.

Die Ostdeutsche Spritfabrik errichtete zwischen Provinzstraße und Bahngelände ausgedehnte Produktions- und Lagergebäude. Nach einem Zwischenspiel als Zweig der Bundesmonopolverwaltung für Branntwein wird jetzt eine Nachnutzung für die Vielzahl der wieder herausgeputzten Baukörper gesucht. An der Provinzstraße überragt eine aus Backstein gemauerte Lagerhalle mit Dreiecksgiebel und flachen Wandpfeilern den Eingangsbau aus dunkel gebrannten Klinkern, der schon in der Form, wie die Steine verlegt sind (Mauerwerksverband) die märkische Backsteingotik zitiert.


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Die Eisengießerei und Maschinenfabrik Rössemann & Kühnemann produzierte an der Kühnemannstraße. Dahinter entstand die Konserven- und Dörrgemüsefabrik "Adria". Der Architekt Bruno Buch hat die Gebäude entworfen, die im Norden bis an die Industriestichbahn heranreichen. Die Gleise der Industriebahn gibt es nicht mehr, die Gebäude im hinteren Teil des Grundstücks sind dem Verfall preisgegeben. Das gelbe Verblendmauerwerk vor dem Eisenbetonskelett der Gebäude zieht sich bis zum Hauptgebäude, das auch hier mit einem Dreiecksgiebel bekrönt ist. Aldi, die Özdemir-Döner-Produktion und andere Firmen nutzen heute einen Teil der ehemaligen Konserven- und Dörrgemüsefabrik, der Rest steht leer.

Die Grundbesitzer, die die Flächen des einstigen Artillerie-Schießplatzes erworben haben, versuchten sich als Terrainentwickler. Der Mediziner Hermann Epenstein konnte nur einen Teil seines Geländes bebauen, bis der Erste Weltkrieg ausbrach. In der Hausotterstraße sind zwei bescheidene, kleine Wohnhäuser mit klassizistischem Dekor aus der ersten Bauphase der 1870er Jahre erhalten geblieben. An der Amendestraße wurde zwischen älterer Wohnbebauung im Zuge der wachsenden Automobilisierung 1937 die "Amende Garage" errichtet. An der Reginhardstraße bauten die Gemeinnützige Heimstättengesellschaft der BVG und die Gemeinnützige Wohnungsbaugesellschaft Eintracht Ende der 1920er Jahre Wohnanlagen, die mehrere Blocks umfassen.

Mit Senf hat dieser Bericht begonnen, mit Mostrich soll er enden. Das ist nämlich der in Norddeutschland als Synonym verwendete Begriff für Senf, abgeleitet vom italienischen "mostarda". In Berlin überträgt man diesen Ausdruck auch auf jemanden, der keinen Durchblick hat: "Du hast ja Mostrich auf der Pupille".


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Umgebung der Reinickendorfer Provinzstraße:
> Fortsetzung der Provinzstraße nach Süden: Soldiner Kiez
> Östlich angrenzend: Schönholz
> Nördlich angrenzend: Paddenpuhl-Siedlung
> Westlich angrenzend: Lettekiez

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route
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