Bezirke
  Straßenverzeichnis     Personen     Themen     Aktuell     Forum  
Charlottenburg-Wilmersdorf
Friedrichshain-Kreuzberg
Lichtenberg
Marzahn-Hellersdorf
Mitte
Die alte Mitte
Regierungsviertel, Hauptbahnhof und mehr
Tiergarten
Wedding
Neukölln
Pankow
Reinickendorf
Spandau
Steglitz-Zehlendorf
Tempelhof-Schöneberg
Treptow-Köpenick
Allgemein:
Startseite
Ich bin NEU hier
Hinweise
Kontakt
Impressum
Datenschutz
Links
SUCHEN
Sitemap

Kathedrale der Arbeit, Tempel der Produktion


· Stadtteil: Moabit
Bereich: Martinikenfelde
Stadtplanaufruf: Berlin, Wiebestraße
Datum: 16. Januar 2017 (Update zu 1. September 2008)

Martinikenfelde ist ein nicht mehr gebräuchlicher Name für den westlichen Teil Moabits, der bis zur Beusselstraße reicht und von drei Wasserstraßen umgeben ist (Spree, Westhafenkanal, Charlottenburger Verbindungskanal). Martin, der wegen seiner kleinen Statur "Martiniken" genannt wurde, war ein französischer Kolonist. Nach dem Wirtshaus, das seinen Namen trug, wurde später die ganze Gegend benannt. Die heutige Kaiserin-Augusta-Allee trug Mitte des 19. Jahrhunderts noch den Namen Auf dem Martiniquenfelde.

Ludwig Loewe
Martinikenfelde (heute Moabit-West) war ab 1900 das größte innerstädtische Industriegebiet Berlins. Es begann mit dem Nähmaschinenhersteller Ludwig Loewe, der an der Huttenstraße Produktionsanlagen und ein Verwaltungsgebäude errichten ließ. Der Architekt Alfred Grenander - der uns vor allem als Schöpfer vieler Berliner U-Bahnhöfe in Erinnerung ist - setzte die Bauten entlang der Huttenstraße mit zwei Pyramidentürmen wirkungsvoll in Szene.


mit KLICK vergrößern

Die Montagehalle und andere historische Werksanlagen im Innenbereich bis zur Sickingenstraße gibt es nicht mehr, sie wurden vor zwanzig Jahren zugunsten von Neubauten abgerissen.

Als im Ersten Weltkrieg die Fabrikationsanlagen erweitert werden mussten, errichtete Grenander an der Wiebestraße die Fräs- und Bohrmaschinenfabrik mit zwei Innenhöfen. Vor der Backsteinfassade erzeugen stämmige Säulen eine monumentale Wirkung, die die Funktion der Gebäude wirkungsvoll nach außen spiegelt: Die Bauten aus Eisenbeton müssen die Lasten schwerer Maschinen in der Produktion tragen. Auch die Standbilder von Arbeitern vor der Fassade sind Sinnbilder der Produktion. In der Hauseinfahrt ist stolz ein Löwe als Firmenemblem aus dem Backstein herausgearbeitet. Über dem Eingangsbereich thront ein weiterer Löwe als Natursteinrelief. Innerhalb der Höfe wird auf jeden Schmuck verzichtet, die weißen Einheitskacheln der Berliner Industrieinnenhöfe wurden für die Fassaden verwendet.

Loewe war ein vielseitiges Unternehmen, das auf die jeweilige Nachfrage schnell reagierte. Mit Nähmaschinen hatte es 1861 angefangen, zwanzig Jahre später wurde diese Produktion wieder eingestellt. Inzwischen produzierte Loewe Gewehre und Munition für die preußische Armee und beteiligte sich an der Waffenfabrik Mauser. Zusammen mit einer Patronenfabrik gründete Mauser die Deutschen Waffen- und Munitionsfabriken (DWM). Ein Angestellter von Loewe, Georg Luger, entwickelte die Parabellum-Pistole. Der Waffenname "Parabellum" wurde von dem lateinischen Ausspruch abgeleitet: "Si vis Pacem, para Bellum" (Wenn Du Frieden willst, bereite Dich auf Krieg vor). Mit humanistischer Bildung stirbt es sich wohl besser!

Ludwig Loewe hatte bei einem USA-Besuch die Präzisionsfertigung von standardisierten Massenartikeln (das "American System of Manufacture") kennen gelernt. Sie beruht auf hoher Spezialisierung: Die Produktion wird in eine Vielzahl von Einzelschritten zerlegt. Auch die fertigen Produkte sind bis zu den Einzelteilen standardisiert, dadurch können problemlos fehlerhafte Teile ausgetauscht werden. Diese Verfahren wurden zuerst bei der Waffenherstellung angewandt, und obwohl es viel teurer war als frühere Fertigungsverfahren, war die Austauschbarkeit der in großen Mengen hergestellten Pistolen und Gewehre und ihrer Einzelteile ein großer Vorteil.

Loewe beteiligte sich zusammen mit Thyssen an der Union-Elektricitäts-Gesellschaft, die zahlreiche Straßenbahnen baute und betrieb. Es war ein Joint Venture mit einer amerikanischen Electric Company, das aber nach zehn Jahren am Ende war und von der AEG übernommen wurde. Einige Fabrikbauten der Elektricitäts-Gesellschaft sind an der Huttenstraße noch vorhanden, das attraktivste Grundstück der Elektricitäts-Gesellschaft - Huttenstraße Ecke Berlichingenstraße - aber nutzte die AEG zum Aufbau einer neuen Produktion. Peter Behrens baute hier die AEG-Turbinenhalle, die in zweifacher Hinsicht bis heute bedeutsam ist. Hier wird auch heute noch dasselbe Produkt hergestellt wie bei der Inbetriebnahme, und der Bau ist eine Ikone der Industriearchitektur.

AEG-Turbinenhalle
Walter Rathenau, der Sohn des AEG-Gründers, berief den Architekten, Designer, Maler und Grafiker Peter Behrens zum künstlerischen Berater der AEG, der nicht nur für die Architektur, sondern auch für das Produktdesign und für das gesamte Erscheinungsbild des Unternehmens (heute sagt man "Corporate Identity") verantwortlich war. Behrens schuf an der Huttenstraße eine "Kathedrale der Arbeit", in der heute von Siemens Gasturbinen produziert werden.

Der Bau von Behrens aus Stahl, Glas und Stein ist eine Fabrikhalle in klaren Linien ohne jeden Zierrat. Vor der seitlichen unverkleideten Glasfassade erheben sich 22 Stahlträger (Binder), die das Dach tragen, und an der Stirnseite der Halle stützen mächtige Eckpfeiler (Pylone) den Giebel. Doch die Fassade zeigt mehr als die nackte Konstruktion, die Pylone haben keine tragende Funktion, sie sind konstruktiv überflüssig, ja sie erwecken sogar den unzutreffenden Eindruck einer Betonkonstruktion. Andererseits visualisieren sie die Kräfte, die wegen der Turbinenproduktion auf dieses Bauwerk einwirken


mit KLICK vergrößern

Der an der Hallenkonstruktion beteiligte Walter Gropius warf Behrens gestalterische Unehrlichkeit vor, aber Behrens wollte eine künstlerische Aussage über die reine Konstruktion hinaus erreichen und schuf so in expressiver Übersteigerung eine tempelartige Gebäudeform. So ist es verständlich, dass der Flaneur Franz Hessel von einem "Tempel der Produktion", einer "Kirche der Präzision" schwärmt, und diese Fabrikhalle als Inbegriff des Berliner Wesens preist, denn Berliner Schönheit zeigt sich für ihn dort, wo die Stadt arbeitet.

AEG-Glühlampenfabrik
An der Berlichingenstraße Ecke Sickingenstraße schließt sich das Gelände der AEG-Glühlampenfabrik an. Es wurde nicht von Behrens entworfen. Als die AEG zusammen mit Siemens und der Auergesellschaft das Gemeinschaftsunternehmen Osram gründete, wurde der Bau 1920 zur Osram-Glühlampenfabrik. Ab 1930 stellte Telefunken hier Elektronenröhren her. Mit dem Übergang zur heutigen Dienstleistungsgesellschaft änderte sich die Nutzung, ein Teil des Gebäudes wird vom Job-Center Berlin-Mitte genutzt.

Meilenwerk
In der Sickingenstraße an der Wiebestraße wurde um 1900 das größte Straßenbahndepot Europas errichtet. Täglich fuhren in Berlin 900 000 Menschen mit der Straßenbahn, entsprechend groß war die Abstellanlage: auf 22 Gleisen konnten rund 300 Waggons untergebracht werden. Nach der Einstellung der Straßenbahn in West-Berlin 1964 verfiel der Bau, erst im Mai 1993 wurde er wieder hergestellt und zur Oldtimer-Welt umgestaltet.


mit KLICK vergrößern

Das "Meilenwerk" als "Forum für Fahrkultur" präsentiert hier von einer Galerie entlang der Halle interessante Aus- und Einblicke auf eine nostalgische Automobilwelt. Werkstätten für die Oldtimer und Motorräder, Oldtimer-Vermietungen, ein Restaurant wurden integriert. Ob man es als Eventbereich nutzt oder als kostenloses Oldtimer-Museum: Wer Spaß hat an alten Autos, an Rolls Royce oder Bentley, an BMW oder Ford, an Porsche oder Volvo, an Fiat 500 oder Messerschmidt-Kabinenroller oder am VW-Käfer-Cabrio mit Weißwandreifen, der kann hier glänzende Augen bekommen. Die alte Schrift über den Toren "Achtung Gefahr, Torpfeiler" kann für Autos genauso gelten wie für Straßenbahnen.

Roll on, Roll off
In der von Peter Behrens erbauten AEG-Turbinenhalle in der Huttenstraße werden noch heute Turbinen produziert. Die AEG hatte ihre Kraftwerkssparte 1969 in die "Kraftwerk Union AG" eingebracht, die Siemens später vollständig übernommen hat und als Siemens-Gasturbinenwerk fortführt.

Siemens hatte im Jahr 2008 eine Erweiterung der Turbinenhalle um 3.000 qm und die Einstellung von 200 Mitarbeitern bekannt gegeben, um die Turbinenproduktion auszuweiten. Planung für 2009: jede Woche eine Turbine. Problematisch war zu diesem Zeitpunkt die Auslieferung, denn Turbinen mit einem Gewicht von rund 500 Tonnen können nicht auf der Straße transportiert werden, die Tragfähigkeit der meisten Brücken reicht dafür nicht aus. Deshalb mussten sie in mehreren Teilen zum Westhafen gebracht und dort montiert werden, ein umständlicher und unwirtschaftlicher Transportweg bei einer Serienproduktion.

RoRo - roll on, roll off - heißt die Lösung, die hierfür gefunden worden. Der Charlottenburger Verbindungskanal liegt von der Fabrik aus um die Ecke, hier hat man eine Verladerampe von der Straße herunter zum Wasser installiert. Die auf einer fahrbaren Ladefläche liegende Turbine wird so bis auf das Schiff gefahren und dort abgeladen. Die Anwohner informiert man frühzeitig per E-Mail, damit sie sich auf die Beeinträchtigungen einstellen können. Die Verladungen verlaufen inzwischen routiniert, im günstigsten Fall muss der Verkehr nur eine halbe Stunde unterbrochen werden.

Straßennamen kommunistischer Prägung im Westen Berlins
Ernst Thälmann wird im ehemaligen Ost-Berlin mit einem überlebensgroßen Denkmal geehrt, das aus 50 Tonnen massiver Bronze besteht, einer ganzen Jahresproduktion der DDR. Die Verehrung des KPD-Vorsitzenden der Weimarer Zeit hatte in der DDR fast sakrale Züge angenommen, dabei hatten seine eigenen Leute ihn zum Märtyrer gemacht. Stalin und (im Moskauer Exil:) Ulbricht wollten ihn nicht aus dem Nazi-Gefängnis herausholen, mit ihm in der Haftanstalt konnten sie besser Propaganda machen gegen das Hitler-Regime.

Direkt nach dem Krieg wurde die Kaiserin-Augusta-Allee in Moabit in Thälmann-Allee umbenannt. Dass Thälmann in Berlin als erstes im Westen der Stadt geehrt wurde, erstaunt allerdings. Erst mehrere Jahre später bekam im Osten der heutige U-Bahnhof Mohrenstraße den Namen Thälmannplatz, nachdem auch der inzwischen verschwundene Kaiserplatz so benannt worden war. Wie aber kam es zur Ehrung für Thälmann im Westen? Nach Kriegsende ging es darum, mit politisch unbelasteten Personen einen Neuanfang zu schaffen. Die Amerikaner und die Russen als Besatzungsmächte hatten konkrete Vorstellungen, mit welchen Köpfen sie das organisieren wollten.

Der sowjetische Stadtkommandant Bersarin setzte den Berliner Magistrat ein, den Oberbürgermeister Arthur Werner und seinen Stellvertreter Karl Maron (später DDR-Innenminister). Werner war der einzige Berliner Bürgermeister, der nicht gewählt, sondern kraft Besatzungsstatuts bestimmt wurde. Berlin war noch nicht geteilt, erst 1948 entstanden getrennte Verwaltungen (Senat = West-Berlin, Magistrat = Ost-Berlin). Bis dahin war der Magistrat für ganz Berlin zuständig. Die Gruppe Ulbricht war aus dem Moskauer Exil zurückgekehrt und bestimmte den kommunistisch geprägten Kurs der neuen Stadtregierung mit. Maron war zuständig für die Polizei, damit gehörten Straßenbenennungen zu seinem Arbeitsgebiet und die Richtung war klar.

Ehrungen für Nazis, "militaristische" und "unzeitgemäße" Namen mussten getilgt werden. So wurden der Bebelplatz, Mehringplatz und Bersarinplatz sowie die Neuköllner Karl-Marx-Straße bis 1947 amtlich benannt. Im Graubereich blieben Umbenennungen, die dann nicht von der Polizeibehörde bestätigt wurden. Die Kaiserin-Augusta-Allee hieß von 1945 bis 1947 Ernst-Thälmann-Straße oder Thälmann-Alle. Beide Namen waren im Umlauf und verschwanden dann wieder, als die Kaiserin-Augusta-Allee ihren seit 1877 geführten Namen bestätigt bekam. Auch die Turmstraße war in diesem Zeitraum ohne amtliche Bestätigung nach Ernst Thälmann umbenannt worden. Hieran zeigt sich, dass die Wirren der direkten Nachkriegszeit manchmal planvolles Verwaltungshandeln durchkreuzt haben, denn ihr lag kein belasteter Name zugrunde.

Angrenzende Quartiere
Der Beusselkiez jenseits der Beusselstraße war das Wohnquartier der Fabrikarbeiter, die in den Produktionsanlagen in Martinikenfelde beschäftigt waren. Über die Mietskasernen, aber auch über ein Reformprojekt des Wohnungsbaus finden Sie mehr in meinem Bericht Der echte Film über ein falsches Leben . Über das südlich der Spree angrenzende Industriequartier "Helmholtz-Insel" habe ich in dem Beitrag Geschichte einer Charlottenburger Insel geschrieben. Vom westlich angrenzenden Charlottenburger Mierendorffkiez führte uns schon einmal einen Abstecher zum Neuen Ufer: Wo Libellenflügel in der Sonne glitzern.

--------------------------------------------------------------
... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
--------------------------------------------------------------

--------------------------------------------------------------
... und hier sind weitere Bilder ...
--------------------------------------------------------------

--------------------------------------------------------------
Unsere Route:
--------------------------------------------------------------

zum Vergrößern ANKLICKEN



Tiergarten
Moabit im Dunklen