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Hundekuchen und Perlonstrümpfe


Stadtteil: Lichtenberg
Bereich: Rummelsburg
Stadtplanaufruf: Berlin, Blockdammweg
Datum: 26. September 2016
Bericht Nr: 562

Kann man zwischen Industriebauten flanieren? Von der Perlonfabrik zur Hundekuchenfabrik, vorbei an einer Flussbadeanstalt, zwei Kraftwerken, einem Gaswerk und einer Gaswerksiedlung, vieles ist in Rummelsburg spannende Industriegeschichte, die bis in die Gegenwart reicht.

Großkraftwerks Klingenberg
Die Köpenicker Chaussee wird an beiden Seiten von den Bauten des Kraftwerks Klingenberg begleitet. Auf der einen Seite der Straße das langgestreckte niedrige Maschinenhaus, das an ein elfgeschossiges Verwaltungshochhaus andockt. Auf der anderen Seite das ebenfalls langgestreckte Schalthaus, das durch acht hervorspringende Treppenhaustürme gegliedert ist. Eigentlich müsste das Kraftwerk Gebrüder Klingenberg & Issel heißen, denn der Kraftwerks-Ingenieur Georg Klingenberg und sein Bruder, der Architekt Walter Klingenberg, haben hier 1927 das damals größte und modernste Kohlekraftwerk Europas errichtet. Dass die Architektur gemeinsam mit dem bedeutenden Industriearchitekten Werner Issel geschaffen wurde, kommt im Kraftwerksnamen überhaupt nicht vor.

Fernheizung gab es damals noch nicht, das Werk war geschaffen worden, um Kohle in Elektrizität umzuwandeln. Allerdings gab es Ansätze, die anfallende überschüssige Energie zu verwerten. So wurden damit große Gewächshäuser betrieben, und in einer Badeanstalt nördlich des Kraftwerks wurde das Wasser aus dem Fluss angewärmt.


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Am Ende des Zweiten Weltkriegs wollte die SS das Kraftwerk sprengen, das konnte gerade noch verhindert werden. Dafür hat die sowjetische Besatzungsmacht dann große Teile der technischen Anlagen demontiert, so dass der Betrieb nur reduziert wieder aufgenommen und nach und nach ausgebaut werden konnte.

In den 1970er Jahren wurde das Kraftwerk für die Wärmeversorgung Ost-Berlins zu einem Heizkraftwerk umgebaut, ab 1987 im Braunkohlebetrieb. Seit 2011 wird auch Erdgas für die Spitzenlast eingesetzt. Erdgas kommt heute aus Russland, den Niederlanden und Norwegen, mit Lieferproblemen beim russischen Gas rechnet man nicht.

Vattenfall als Nachfolger der Bewag betrieb das Heizkraftwerk bisher überwiegend mit Braunkohle aus seinem Lausitzer Tagebaugebiet. Nachdem der Kraftwerkskonzern diesen Betriebsteil verkauft hat, ist er dabei, die Energieerzeugung ganz auf Erdgas umzustellen. Das muss Vattenfall auch tun, um den Ausstoß von Kohlendioxid zu vermindern und seine Klimaschutzvereinbarung mit dem Senat einzuhalten. Immerhin 600.000 Tonnen CO2 jährlich sollen dadurch vermieden werden.

Altes Kraftwerk Rummelsburg
Das Kraftwerk Rummelsburg an der Rummelsburger Landstraße Ecke Nalepastraße hat die Bewag bereits 1907 erbaut. Sie setzte dabei erstmals eine neue Technologie ein: Statt mit den bisher üblichen Dampfmaschinen wurde jetzt der Strom mit Turbinen erzeugt. Die zum Betrieb erforderliche Kohle wurde auf dem Wasserweg angeliefert, das Kraftwerk liegt direkt an der Spree. Der in den 1920er Jahren mit den modernen Bauten der Stromversorgung beauftragte Bewag-Hausarchitekt Hans-Heinrich Müller erweiterte das alte Kraftwerk durch einem Anbau, schon bei der Fassadengestaltung und den Fensterformen ist die typische Handschrift dieses Architekten erkennbar.

1966 wurde das Kraftwerk vom Netz genommen. Heute wird das monumentale Gebäudeensemble als Eventlocation angeboten, wobei auch auf das "katakombenartige Untergeschoß mit bis zu 23 Metern Höhe" hingewiesen wird. Vattenfall hatte zunächst Einzelgenehmigungen erteilt, einige Filmproduktionen sind hier entstanden. Inzwischen hat ein Architektenbüro Planungen für einen langfristigen Betrieb als Veranstaltungs- und Ausstellungsstätte erstellt.

Gaswerk Friedrichsfelde
Es begann 1825 mit der "Gaserleuchtungs-Anstalt", dem Gaswerk in der Gitschiner Straße. Der Name sagt es schon: Gas wurde für die Straßenbeleuchtung eingesetzt. Doch schon bald wurde auch die Innenbeleuchtung von Gebäuden mit Gas betrieben. Ab 1855 begann man dann, Gasgeräte auch zum Kochen, Backen und Heizen zu verwenden. Die Engländer wussten, wie es funktioniert mit der Gasherstellung, ihre "Imperial Continental Gas Association" betrieb die ersten Gaswerke in Berlin. Nach und nach errichteten die Gemeinden selbst Gaswerke und bauten ihre eigene Gasversorgung auf.

In Friedrichsfelde entstand 1914 am Blockdammweg ein Gaswerk, das aber unrentabel war und deshalb schon nach drei Jahren vom angrenzenden Gaswerk Lichtenberg II übernommen wurde. Der Gasbehälter befand sich nicht auf diesem Gelände, sondern in der Victoriastadt nördlich des Rummelsburger Sees. In den 1930er Jahren wurde das Kraftwerk zu einer Gaskokerei umgebaut, in der man aus der Steinkohle die gasförmigen Bestandteile ausgeschieden hat. In den 1980er Jahren ließ die DDR das Werk nach Eintritt von "Risikofällen" abreißen.

Zu dem Gaswerk gehört ein 45 Meter hoher achteckiger Wasserturm. In dem expressionistisch anmutenden Klinkerturm waren drei Wasserbehälter untergebracht. Der Turm und einzelne Bauten des Friedrichsfelder Gaswerks blieben erhalten, dazwischen unter der weiträumigen Freifläche der ehemaligen Gaskokerei vermutete man Schadstoffe, vielleicht auch Kampfmittel aus dem Zweiten Weltkrieg. Vattenfall will hier ein modernes Gas- und Dampfturbinen-Heizkraftwerk errichten, das das bestehende Heizkraftwerk Klingenberg an der Köpenicker Chaussee ersetzen soll. Wahrscheinlich wird Vattenfall deshalb im Werk Klingenberg nicht wie angekündigt die Gasproduktionsanlagen erneuern, sondern nur "die vorhandenen Gasanlagen überarbeiten und optimieren".

Gaswerksiedlung Köpenicker Chaussee
Von diesem Kraftwerksprojekt ist auch die weitere Entwicklung der Gaswerksiedlung um die Ecke an der Köpenicker Chaussee abhängig. Wohnungen an der viel befahrenen Straße mit dem Kraftwerk direkt im Rücken werden sich nicht vermieten lassen, deshalb hat Vattenfall die Mieter nach und nach aus der Gaswerksiedlung ausziehen lassen. Hinter der langgestreckten Fassade befinden sich 16 Häuser, die symmetrisch um einen hervorgehobenen Mittelteil mit Stufengiebeln und Eckerkern angeordnet sind. Das an hanseatische Backsteinbauten erinnernde Bauensemble steht unter Denkmalschutz, doch der Landesdenkmalrat hat der Umnutzung für Gewerbezwecke bereits zugestimmt und empfohlen, charakteristische Ausstattungsmerkmale wie Treppenhäuser, Geländer, Türen zu erhalten.

Da noch nicht einmal der Bebauungsplan für das neue Kraftwerk aufgestellt ist, werden Überlegungen zur Zwischennutzung der Gaswerkssiedlung angestellt. Das Bezirksamt hält auch Flüchtlingsunterkünfte grundsätzlich für möglich, das kann aber wegen des baulichen Zustands nicht spontan umgesetzt werden. Diese Einschätzung ist ein halbes Jahr alt, inzwischen stehen sogar Flüchtlingsunterkünfte leer, so dass diese Idee wohl nicht verwirklicht wird.


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Spratt’s Hundekuchenfabrik
Auf die Idee, vor 160 Jahren nach Erkenntnissen der Ernährungswissenschaft Tierfutter herzustellen, musste erstmal jemand kommen in einer Zeit, in der nicht einmal die Menschen ausreichend und erst recht nicht qualitätsvoll zu Essen hatten. Der Erfinder des Hundekuchens, der Chemiker Spratt, war Brite. War es ein Anflug von britischem Snobismus? Ein Werbebild "Hundekuchen für vornehme Hunde" verstärkt diese Vermutung. Ab 1862 produzierte Spratt auch in einer Berliner Zweigniederlassung, ab 1894 dann in einer neu errichtete Fabrik in Rummelsburg. Später wurde das deutsche Unternehmen, das auch andere Tierfuttermittel herstellte, in eine Aktiengesellschaft "Spratt’s Patent AG" umgewandelt.

Auf dem ehemaligen Firmengelände in Rummelsburg öffnet der Kult-Klub „Sisyphos“ seine Pforten für junge Menschen, die den hier herrschenden dress-code kennen: "Hauptsache du bist cool, ein wilder Mix an Kleidungsstilen ist an der Tagesordnung, alter Trainingspulli und Schlabberhose, bloß keine Designermarken". Wer keine Angst vor Sand in den Schuhen hat, kann sich hier am künstlichen Strand vergnügen - sleepless in Berlin, von Freitag bis Montag wird durchgefeiert.



Klettern neben der Hafenküche
Die "Städtische Flußbadeanstalt Lichtenberg" und das Lichtenberger Stadtbad sind wohldurchdachte Werke des Lichtenberger Stadtbaurats Rudolf Gleye. Das Flussbad ist ein sommerlicher Saisonbetrieb, ließ sich aber im Winter als Eislaufbahn nutzen. Auch das Heizen durch Kühlen war seine Idee: Das Flussbad konnte das Wasser in seinen vier Becken durch einen Kühlwasserkanal des Kraftwerks Klingenberg auf bis zu 30 Grad aufheizen, so warm war das verbrauchte Kühlwasser noch. Von 1927 bis in die 1950er Jahre war das Bad in Betrieb.

Jetzt befindet sich hier an der Spree eine „City-Marina“ mit Bootsliegeplätzen. Von der Terrasse des Restaurants "Hafenküche" kann man sich das Treiben auf dem Wasser ansehen. Geht man an dem angrenzenden Fabrikgebäude vorbei, dann überrascht der Blick in eine Boulderhalle. In den bunten Gumminoppen an den Steilwänden hängen und klettern Sportkletterer ohne Seil und Gurt bis zu einer Höhe, aus der man noch abspringen kann. Beim Spielen mit den Wandstrukturen und dem eigenen Körper gilt: aufwärmen, denken, bouldern, Sturzraum freihalten.

Perlon als kriegswichtige Erfindung
Perlon und Nylon sind reißfeste und elastische Kunstfasern. Wenn sie die Beine einer Dame als hautnahe Hülle umspielen, wird wohl kaum jemand an Kohlenstoffatome denken, die Wirkung kann durchaus über die vorteilhaften Materialeigenschaften hinausgehen. Frauen wussten das oder haben es geahnt. In den USA hatte ein Chemiker von Dupont 1935 das Nylon erfunden. Als Dupont 1939 als Test die ersten 4.000 Nylonpaare verkaufte, waren diese innerhalb von drei Stunden vergriffen. Und beim landesweiten Verkaufsstart am 15.Mai 1940 wurden ihnen innerhalb eines Tages fünf Millionen Paar Strumpfe aus den Händen gerissen. Dupont erkannte die Marketingwirkung und erklärt diesen Tag zum "N-Day", dem Tag der Nylonstrümpfe. Später wurden die Amerikaner zur Besatzungsmacht im besiegten Deutschland, jetzt handelte man Nylons neben Ami-Zigaretten als Währung auf dem Schwarzmarkt.

Nylon war zuerst da, dann wurde Perlon gezielt als Konkurrenzprodukt erfunden. Bei der Aceta GmbH am Rummelsburger See, einem 1925 gegründeten Unternehmen für Kunstseidenproduktion, arbeitete der Chemiker Paul Schlack an einer vollsynthetischen Faser. Sie sollte so wie Nylon sein, aber wegen des Patentschutzes aus einem anderen Grundstoff: als Faden zu verspinnen, dehnbar und unverwüstlich, temperaturbeständig und leicht waschbar. Schlack hatte die Nylon-Patentschrift gelesen und kannte eine Substanz, die die Amerikaner als ungeeignet verworfen hatten, hieraus konnte er das neue Perlon herstellen.

Im Zweiten Weltkrieg galt Perlon als kriegswichtiges Material. Aus ihm wurden Fallschirme hergestellt und Schläuche für Flugzeugreifen, das mit den Damenstrümpfen kam in West-Deutschland erst später. Als dann auch Blusen und Hemden aus Perlon auf den Markt kamen, bekam die Deo-Industrie Aufwind, denn unter der Kunstfaser müffelte es. Auch die DDR hatte ihren "Faden vollendeter Verlässlichkeit". Bei ihr hieß das Perlon Dederon ("DDR-on"), daraus wurden Küchenschürzen, Herrenhemden, Damenkleider hergestellt. An der Rummelsburger Bucht beim "VEB Kunststoffwerk Aceta" produzierte man Perlondraht für Fischereinetze, Seile und Angelschnüre.

Bereits seit 1867 war die Agfa ("Actien-Gesellschaft für Anilin-Fabrication“) am Rummelsburger See ansässig. Sie beschäftigte sich zu Anfang mit der Herstellung von Textilfarben. Im Kungerkiez an der Jordanstraße hatte Agfa eine weitere Fabrik für fotografische Produkte. Beide Fabrikanlagen hat der Architekt Paul Karchow errichtet. Die Agfa war über die Interessengemeinschaft Farbenindustrie ("IG Farben") indirekt an der Perlon-Fabrik Aceta beteiligt. Das resultierte aus einem Patentstreit mit Bayer und BASF. Anstatt sich zu bekämpfen, gründeten die drei Unternehmen 1904 diese Interessengemeinschaft und teilten den Markt der Farbstoffchemie unter sich auf, wobei Agfa die Fotochemie übernahm. Die Aceta GmbH siedelte sich wie die Agfa am Rummelsburger See an.

Norddeutsche Eiswerke am Rummelsburger See
Bei seiner Fahrt über die "Wendische Spree" (die Dahme) bei Köpenick hatte Fontane 1860 die Kolossalbauten der Eiswerke gesehen, die auf weithin die Ufer beherrschen. Auch am Rummelsburger See wurden große Mengen Natureis gewonnen, bevor man Kunsteis maschinell herstellen konnte. Man setzte Pferde ein, um das Eis mit Sägen zu zerschneiden. Transportbänder ("Paternosterwerke") beförderten die so gewonnenen Eistafeln in 18 große Eisschuppen, in denen sie gelagert wurden. Die bis 14 Meter hohen Schuppen und Förderanlagen waren in jener Zeit ein typisches Bild an den Seen. Um der Sonneneinstrahlung zu entgehen, wurde das Eis abends auf Transportwagen geladen. Jeden Tag beförderten 150 Wagen 6.000 Zentner Eis nach Berlin.

In einem Artikel von 1896 in der "Gartenlaube", dem "Illustrirten Familienblatt", hört sich die Gewinnung des Natureises in Rummelsburg sehr romantisch an: Der Verfasser begleitet die "Eistafeln von ihrer Entstehungsstätte über das Paternosterwerk und die Gleitbahnen bis ins Innere der Speicher, wo die Arbeiter, unermüdlich Schicht auf Schicht häufen, stets bestrebt, alle Lücken durch den Abgang an Brocken und zerspaltenen Tafeln zu füllen". Im Stadtbild sähe man die "Eiswagen, die an heißen Sommertagen mit der Regelmäßigkeit und Unermüdlichkeit des Milchlieferanten die Straßen durchfahren".

Für unser Flaniermahl lassen wir uns heute von der Morgenpost inspirieren, die eine "griechische Institution in Friedrichshain" empfiehlt, das Kos House in der Karl-Marx-Allee an der Weberwiese. Die Empfehlung ist gut, wir sind zufrieden, und auch der Ouzo vom Haus fehlt nicht. Ungewöhnlich, dass das Freigetränk auf dem Kassenbon belastet und dann als "Hausbon" wieder gutgeschrieben wird. Das macht Eindruck beim Finanzamt, den Verbleib der eingekauften Getränke hat das Lokal lückenlos belegt.

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... ACHTUNG, es folgen ZWEI Bildergalerien ...
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... und hier sind weitere Bilder ...
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Unsere Route:
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Zwei Kleinhaussiedlungen im Norden
Prinzenviertel ohne Prinzen